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Wenn Verharmlosung zur Methode wird

Karin Huber tadelt in ihrem Leserbrief SVP-Nationalrätin Martullo-Blocher und erklärt, das Abkommen über Lebensmittelsicherheit sei harmlos – «es ändere sich kaum etwas». Eine beruhigende Botschaft. Nur: Sie stimmt so nicht. Wer das Protokoll liest, erkennt schnell, dass die Schweiz nicht bloss technische Regeln übernimmt, sondern ein Stück ihrer Gesetzgebung gleich mit. Denn das Abkommen führt den sogenannten «dynamischen Nachvollzug» ein. Jede neue EU-Verordnung – etwa zu Pflanzenschutz, Tiergesundheit oder Hygiene – tritt künftig automatisch in der Schweiz in Kraft, ohne dass Parlament oder Volk mitreden. Das ist kein juristisches Detail, sondern der Punkt, an dem aus Souveränität Verwaltung wird.
Noch gravierender ist der Kontrollmechanismus: Die EU-Kommission (DG SANTE) erhält das Recht, Systemaudits in der Schweiz durchzuführen. Das klingt harmlos – nach Fachleuten, die ein paar Formulare prüfen. In Wirklichkeit bedeutet es: EU-Inspektoren dürfen bei unseren Bundes- und Kantonsbehörden in die Akten greifen, ihre Verfahren bewerten und vor Ort Betriebe stichprobenweise begleiten, um die Anwendung des EU-Rechts zu überprüfen. Sie schreiben darüber Berichte, die in Brüssel veröffentlicht werden – mit der Möglichkeit, «Empfehlungen» abzugeben, die faktisch Anpassungsdruck auf die Schweiz ausüben. Das ist kein Fantasieprodukt, sondern persönlich erlebte Vertragsrealität im Rahmen meiner tierärztlichen Kontrolltätigkeit für Fleischexporte in die EU als die Schweiz noch auf der Drittlandliste stand.
Wer das übersieht oder als Nebensache abtut, verkennt die institutionelle Tragweite: Es ist der Moment, in dem sich schweizerische Eigenverantwortung in europäische Beaufsichtigung verwandelt – nicht mit Knall, sondern mit Bürokratie.
Auch Hofläden und Alpkäsereien sind künftig keine «Ausnahmebetriebe» mehr, sondern «Food Business Operators» nach EU-Verordnung 852/2004. Sie brauchen Eigenkontrollkonzepte, Allergenlisten, Etiketten nach EU-Muster u.a.m. – selbst wer nur den Sonntagszopf verkauft.
Frau Huber schreibt, die Schweiz sei schon zu 90 Prozent EU-konform. Schön – aber über die fehlenden zehn Prozent entscheidet künftig nicht mehr Bern, sondern Brüssel. Genau das ist der Unterschied zwischen Kooperation und Integration.
Man kann Frau Martullo überzogen finden. Doch wer als Journalistin urteilt, sollte die Verträge lesen – nicht nur Meinungen darüber zitieren. Denn wer das Kleingedruckte ignoriert, versteht selten, wo die eigentliche Politik gemacht wird.

Guolf Regi
19.10.25 - 21:36 Uhr
Leserbrief
Ort:
Chur
Zum Artikel:
Ausgabe vom SO, 14. Oktober 2025 Zum Leserbrief von Karin Huber: Manipuliert und für dumm verkauft
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Sehr geehrter Herr Kurt Meier – Sie schreiben: … "Zum Beispiel gilt die von Herr Regi genannte Verordnung 854/2004 nicht für die direkte Lieferung kleiner Mengen von Primärprodukten durch den Hersteller an den Endverbraucher oder an lokale Einzelhandelsunternehmen, die den Endverbraucher direkt beliefern".

Danke für den Hinweis. Genau hier kommt das «Kleingedruckte» zum Tragen. Was versteht man unter «kleiner Menge»? Sie ist nicht definiert. Nun ist es eben so, dass alles, was nicht klar ist, das wird dann uni- und nicht bilateral durch die EU und seine Vertreter gefüllt. Sie bestimmen was unter «Lieferung kleiner Mengen» zu verstehen ist. Ich könnte darüber ein Lied singen – 17 Jahre Erfahrung mit wöchentlichem Export von Fleisch – und Milchprodukten in die EU (Mandat des Bundesamtes für Veterinärwesen, teilzeitlich). Um es zu glauben, was da alles möglich ist, muss man es erlebt haben. An Leute mit gesundem Menschenverstand ist es sehr schwierig die erlebte Absurdität zu vermitteln.
Unter: https://www.schweizerbauern.ch/hoflaeden/ erhalten Sie einen Einblick, was ein Hofladen sein kann. Und dann stellen Sie sich eben die Frage: was sind «kleine Mengen».
Alles Gute wünsche ich Ihnen. G. Regi, Chur

Wenn ich als interessierter Laie diese EU-Verordnungen durchlese scheinen sie mir für einen 400 Millionen Verbrauchermarkt vernünftig, angemessen und auf Spezialsituationen Rücksicht nehmend. Zum Beispiel gilt die von Herr Regi genannte Verordnung 854/2004 nicht für die direkte Lieferung kleiner Mengen von Primärprodukten durch den Hersteller an den Endverbraucher oder an lokale Einzelhandelsunternehmen, die den Endverbraucher direkt beliefern. Vielleicht könnten Hofladenbesitzerinnen und -besitzer einmal einen Besuch über die Grenze nach Österreich, Italien, Frankreich oder Deutschland machen oder ihre Kolleginnen und Kollegen einladen um sich in der Praxis über die gegenseitigen Anforderungen auszutauschen. Ich wäre nicht erstaunt, wenn diese vor der Schweizer Bürokratie ziemlich Respekt hätten.

Wenn Angstmacherei zum Lebensinhalt wird

Der Bundesrat hat am 13. Juni 2025 die Abkommen des Pakets zur Stabilisierung und Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) gutgeheissen.
Schon am 20. Dezember 2024 demonstrierten 70 Mitglieder der SVP auf dem Bundesplatz gegen die neuen EU-Verträge. An vorderster Front skandierte Parteipräsident Marcel Dettling mit einer Hellebarde in der Hand den Unmut der SVP über die neuen EU-Verträge. Die Demo erfolgte ohne Bewilligung. Die Kantonspolizei Bern hat Strafanzeige eingereicht. Die SVP hat dabei klar gezeigt: „Manne und Fraue” waren dagegen, ohne damals den Text des Pakets gelesen zu haben. Die Argumente für eine Ablehnung wurden einfach nachgeschoben. So geht das!

Ich möchte die Wichtigkeit des Pakets anhand eines Beispiels aufzeigen. Es geht um Produkte der Medtech-Branche (Medizin und Technik), zum Beispiel Inkubatoren, Monitore, Ultraschallgeräte, Beatmungsgeräte, Diabetesgeräte etc.

Die Medtech-Branche stellt sich klar hinter das Paket Schweiz-EU. Eine Umfrage von Swiss Medtech unter ihren Mitgliedern zeigt ein eindeutiges Bild: 81 Prozent der Unternehmen bekennen sich zum bilateralen Weg. Die Gründe für diese Haltung liegen auf der Hand. Ein gesicherter Marktzugang über das Abkommen zur gegenseitigen Anerkennung (MRA***) ist entscheidend, damit Schweizer Medtech-Produkte ohne zusätzliche Hürden in die EU exportiert werden können. Ebenso wichtig ist die Personenfreizügigkeit, die es der Branche ermöglicht, dringend benötigte Fachkräfte und Forschungstalente aus dem Ausland zu rekrutieren. Jeder dritte Arbeitsplatz in der Medtech-Industrie hängt direkt von Aufträgen aus der EU ab. Stabile Beziehungen zu Europa sind daher von zentraler Bedeutung.

Ein Ja zum EU-Paket ist eine Garantie und ein Bekenntnis für eine gesunde Medtech-Branche und den Erhalt hochwertiger Arbeitsplätze.

***MRA steht für „Mutual Recognition Agreements” (Abkommen über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen). MRAs sind ein wichtiges Instrument, um technische Handelshemmnisse im staatlich regulierten Bereich zu beseitigen. Sie ermöglichen den betroffenen Produkten in der Schweiz und im Gebiet der Vertragsparteien einen möglichst ungehinderten Marktzugang.

Jean-Marie Zogg, Bonaduz

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