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Unvergesslich sind die Kriegsjahre

BT-Journalist Pesche Lebrument unterhielt sich mit seiner Grosstante über Verdunkelung und gequälte Flüchtlinge.

Südostschweiz
01.09.19 - 04:30 Uhr
Ereignisse
Die heute 99-jährige Lilly Frei war bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 19 Jahre alt.
Die heute 99-jährige Lilly Frei war bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 19 Jahre alt.
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von Pesche Lebrument


Über Grosstante gibt’s keine Einträge im Internet, keinen einzigen, ich habe ihre Geschichte gegoogelt. Ich stosse auf Ereignisse aus ihrem Geburtsjahr: «1920: Erstmals erreicht ein Flugzeug eine Höhe von über 10.000 Metern. 1920: Premiere des Degenfilmhelden «Zorro» auf der Kinoleinwand. 1920: Die NSDAP wird im Hofbräuhaus München gegründet.» Ich besuche Grosstante, bevor es für Fragen zu spät ist. Sie ist das ganze Jahr über hier in diesem Alters- und Pflegeheim bei St. Gallen. Das hübsche Heim steht hoch oben auf dem Hügel, der altehrwürdige Bau stammt aus den Anfängen des vorigen Jahrhunderts, genau wie Grosstante, Jahrgang 1920. Lilly Frei lebte als Kind in Mastrils und arbeitete später im Kantonsspital St. Gallen.

Eine andere Welt

Sie kommt aus einer anderen Welt. Ich trete ein durch automatische Türen und winde mich durch das lange Gemeinschaftsgebäude. Vor dem grossen Aufenthaltsraum steht eine elektronische Anzeigetafel. Eine Leuchtschrift listet das Abendmenü auf. Daneben die Zeile: «Wir nehmen Abschied von Frau Blutz.» Weit kann Grosstante nicht sein, sie ist 99 Jahre alt. Ich laufe durch die Gänge, vorbei an den mehrheitlich weiblichen Bewohnerinnen dieses Heims. Die Damen haben einen ganz eigenen Kleidungsstil, nicht von dieser Zeit. Ich finde Grosstante in der Cafeteria. Teetassen klappern auf Tischen, rund herum stehen Rollstühle. Sie erkennt mich, legt ihre Hände ineinander:  «Jesses.» Sie betrachtet mich mit diesem gütigen Blick, der nur alten Damen eigen ist. Ich fahre sie in eine ruhige Ecke.

Grosstante ist ein lebendes Geschichtsbuch. Sie erweckt Vergangenheit, besitzt ein einzigartiges Gedächtnis jenseits von Google. An guten Tagen erzählt sie freimütig über die Kriegsjahre, an schlechten Tagen bricht sie beim Thema in Tränen aus. Sie ist bescheiden aufgewachsen, der Vater Maurer-Polier, die Mutter besserte in Heimarbeit fehlerhafte Stickereiarbeiten von Textilfabriken aus. Lilly Frei erlebte eine Jugend zwischen zwei Weltkriegen. 1938 besuchte sie die Frauenarbeitsschule, lernte kochen, bügeln, putzen. «Mini Mama hät gsait, sie wöll nöd, dass amol en Schwiegersohn chön säge, ich chön de Hushalt nöd.»

Sie erinnert sich, wie sie zum ersten Mal Hitler «in der Rediffusion» (am Radio) hörte: «Dia verruckt Stimm». Sie würde ihn noch heute unter Hunderten heraushören. Er hätte eine starke Stimme gehabt, autoritär, oft habe er gebrüllt. Einer ihrer Freunde, ein Gärtner, musste einmal Gemüse nach Stuttgart in eine Kaserne ausliefern. Auch er musste die Hand heben und mit «Heil Hitler» grüssen, da sei man auch als Schweizer nicht darum herum gekommen, ansonsten hätte man als Widerstandskämpfer gegolten.

«Mer händ immer Angscht kha», man habe nie gewusst, was passieren würde, was auf einen zukommt. Die Angst nahm mit der Mobilmachung zu. «2. September 1939», schiesst es aus der Greisin hervor. Alle männlichen Familienangehörigen mussten an die Grenze. Reiche, die es sich leisten konnten, seien ins Innere der Schweiz gezogen. Sie werde nie das Bild vergessen, als eine Familie ein altes Ross vor einen Karren spannte, darauf lag der Hausrat, Bettgestelle, zuoberst thronte ein kleiner Kindersessel. Lily Frei blieb in St. Gallen nahe der Grenze. Sie fand eine Anstellung als Telefonistin, zunächst bei der PTT, dann im Kantonsspital. Es sei nicht einfach gewesen, überhaupt eine Stelle zu finden, wegen des Krieges seien viele gut ausgebildete Schweizer aus dem Ausland heimgekehrt.

«Wir waren nicht frei»

Unterhaltung gab es für die jungen Leute wenig. «Vergnüege gleich null», sagt Lilly Frei. Ausnahmsweise gab es mal Kino oder Tanz. «Miar sind nöd frei gsi», man konnte nicht einfach mal nach Italien oder Frankreich, die Grenzen waren geschlossen. Zudem hatte niemand Benzin. Laufen war angesagt, so ging man oft in die Berge wandern. Abends musste immer alles verdunkelt werden, nicht nur die Wohnungen. Als sie einmal mit ihrem Freund auf dem Velo nachts heimfuhr, wurden sie von der Polizei kontrolliert. Sie sass auf der Stossstange mit einer Verdunklungslampe. Die Verdunklung sei nicht beanstandet worden, allerdings sei ihr Freund verzeigt worden «wegen Mitführens eines fremden Frauenzimmers».

Knapp war neben dem Vergnügen auch das Essen jener Tage. «Es hät vor allem an Milch und Brot gfählt. Immer wenn ich anere Bäckerei verbii gloffa bin, han i tüüf igschnuft.» Es habe  jeweils nur zwei Stück Brot pro Person und Tag gegeben. Einmal habe sie Eier geschmuggelt, die sie von einer Bäuerin erhalten habe, erzählt Lilly Frei. Sie sei auf Umwegen heimgelaufen, hätte auf dem ganzen Weg 
 geschwitzt, aus Angst entdeckt und gebüsst zu werden. Glück habe sie manchmal an ihrem Arbeitsplatz im Spital gehabt. Dann und wann habe ein Patient sein Glas Milch nicht getrunken, die Spitalmitarbeiter seien dankend eingesprungen. Sie sei in jenen Tagen sehr mager gewesen. Selbst Stoff oder Wolle war rationiert, die seien nur gegen Textilmarken erhältlich gewesen, die man von der Gemeinde erhalten habe.

Sie fragt, ob ich schon einmal von der Anbauschlacht gehört hätte. Auf vielen freien Böden mussten auf Geheiss der Behörden Nahrungsmittel angepflanzt werden, damit sich die Schweizer Bevölkerung selbst versorgen konnte. Wer das Getreide für sich selbst abzweigte und nicht dem Staat ablieferte, wurde gebüsst, sagt Grosstante. Die Anbauidee stamme von einem späteren Bundesrat, «Wahlen oder so hät dä gheisse» (Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen, Anm. der Redaktion). 

Schreckliche Erinnerungen

Grosstante braucht eine Pause, trinkt Tee. Dann kramt sie in jenen Erinnerungen, die sie als die schrecklichsten ihres Lebens bezeichnet. Es sei Ende des Krieges gewesen, als die Anfrage per Telefon gekommen sei. Ob das Spital Kapazität hätte, Menschen aufzunehmen, die auf der Flucht seien. Sie stammten aus dem österreichischen Konzen-trationslager Mauthausen bei Linz. «Du chasch dir das nöd vorstelle, all die erschöpfte Mensche in Lumpekleider.» Alle mit farbbemahlten Kreuzen auf dem Rücken, damit sie nicht unerkannt flüchten konnten. Die Spitalmitarbeiter fragten bei der Einweisung gleich nach Namen und Geburtsdatum, dass, wenn jemand starb, man wusste, um wen es sich dabei handelte. Es sei nicht einfach gewesen, die L eute s eien schwach gewesen, manche hätten nicht einmal mehr eine Stimme gehabt.

Lilly Frei hatte einmal eine Frau mit einem grossen «Hungerbauch» vor sich, sie schätze sie um die 65 Jahre. Sie erfuhr von der Flüchtlingsfrau, dass sie noch keine 20 Jahre alt war. Sie hatten die Menschen zunächst gewaschen, eine Frau brach in der Dusche zusammen. Ihre Kollegin aus der Chirurgie, eine gelernte Fotografin, musste Bilder der Flüchtlinge machen. Man sah Frauen, deren Brustwarzen von Zigaretten verbrannt waren. Was «die» mit den Frauen alles angestellt hätten, «grauehaft, die sind fürs ganz Läbe seelisch ruiniert». Es habe auch viele Juden darunter gehabt mit sichtbaren Striemen von Metallpeitschen auf dem Rücken. «Miar händ üs für sie alli igsetzt», die Flüchtlinge hatten «null und nüt» gehabt, keine Zahnbürsten, keine Seifen, gar nichts. Im Gepäck einer Flüchtenden habe sie ein Stück Brot gefunden, es war ganz grün. Viele Flüchtlinge mussten sie im Spital zuerst mit Bouillon aufpäppeln, bis sie später wieder richtig essen konnten.

«Wusstest du im Vorfeld von den Konzentrationslagern und was dort drin geschah», frage ich Grosstante. «I han vu de Konzentrationslager ghört.» Es habe immer geheissen, es passiere dort viel, aber sie habe nichts Genaues gewusst. Es war Tabu von den Konzentrationslagern zu sprechen, das wurde erst nach dem Krieg zum grossen Thema. Ich dürfe nicht vergessen, in jenen Tagen seien die Nachrichten zensuriert gewesen. Man wusste auch in der Schweiz nie, wem man trauen durfte, wer für die Nazis arbeitete. «Me hät üs sogar verbotte, mit Usländer zrede.»

Später erfuhr Lilly Frei, dass die Nazis auch in St. Gallen einen Nachrichtendienst unterhielten. Ausführliches zum Leben in den Konzentrationslagern habe sie von den Flüchtlingen im Spital erfahren. Da habe sie davon gehört, dass Kinder von ihren Eltern weggenommen worden seien, vom Leid, von den Vergasungen. Ein Flüchtling erzählte, dass sie als Kind im KZ nicht aufgeklärt z u werden brauchten. Alle schliefen zusammengepfercht in den Baracken. Irgendwo hatte ein Pärchen dann und wann Verkehr. Kinder kamen auch dort auf die Welt, wenn die Frauen die Kinder denn austragen durften. Die Flüchtlinge mussten einfach darüber reden, es auskotzen. Jetzt bricht Lilly Frei die Stimme ab, Tränen schiessen in ihre Augen. Ich wechsle das Thema. 

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