×

Ein Kapitel, das noch nicht zu Ende ist

Das Wetter zeigte sich am Samstagnachmittag wider Erwarten heiter. Deutlich düsterer aber war das Thema, mit dem sich die über 50 Teilnehmenden des Forum-«Bau und Kultur»-Spazierganges beschäftigten.

Andri
Dürst
26.10.22 - 12:13 Uhr
Leben & Freizeit

«Gastfeindschaft – Davos’ geschichtsträchtige braune und blaue Häuser» lautete der Titel des Stadtrund-ganges, der von Architekt Jürg Grassl und dem ehemaligen Leiter der Dokumentationsbibliothek Timothy Nelson geleitet wurde.

Zu den sonst üblichen «Bau und Kultur»-Stammgästen gestellten sich bei der letzten Führung viele Menschen mehr dazu. Das Thema «Nazizeit in Davos» scheint also bei vielen Einheimischen auf Interesse zu stossen. Und enttäuscht wurden die vielen Spaziergänger nicht. Die Organisatoren schafften es, das Format «Architekturrundgang» geschickt mit der Politikgeschichte zu verknüpfen. Einige der während des Spaziergangs erzählten Geschichten sollen auf dieser Doppelseite wiedergegeben werden. Zum Schluss resümierte Grassl, dass die Geschichte des Nationalsozialismus noch nicht vorbei sei. Er verwies dabei auf Vorwürfe gegen den Davoser Ehrenbürger Klaus-Michael Kühne, dessen Logistikunternehmen während des Krieges eine unrühmliche Rolle gespielt haben soll. Auch heute finde man bei jungen Menschen rechtsradikales Gedankengut. Ein Grüscher, der in Davos seine Lehrer absolviert hat, ist zu einem Wortführer der Neonazi-Bewegung «Junge Tat» geworden, wusste der Architekt zu berichten.

Wer wollte, konnte am Abend im Kino Kulturplatz dem Thema noch auf einer anderen Ebene begegnen. Nachdem der Film «Konfrontation» von Rolf Lyssy über das Gustloff-Attentat gezeigt worden war, fand eine Podiumsdiskussion mit dem Publizisten Max Czollek, der jüngst die Ausstellung «Rache: Fiktion und Realität» im jüdischen Museum Frankfurt mitkuratierte, statt. Dieser fasste den Tag in folgende Worte: «Am Nachmittag ging es auf Erkundungstour durch die Stadt, immer auf den Spuren der angespannten Geschichte der deutschen, deutsch-jüdischen und schweizerisch-deutschen Konflikte. Ach, wäre Davos nur auch so effektiv bei der Lösung dieser Fieberschübe gewesen wie bei den körperlichen Malaisen seiner Patientinnen und Patienten. Als der junge Medizinstudent David Frankfurter 1936 den NSDAP-Landesgruppenleiter der Schweiz, Wilhelm Gustloff, erschoss, sah es tatsächlich einen Moment so aus, als schickte sich dieses kleine Städtchen im Landwassertal an, direkt in das Weltgeschehen einzugreifen. Doch es war schon zu spät und der Virus nationaler Gefühllosigkeit bereits zu tief in die Menschen eingedrungen. Und so blieb uns auch an diesem Herbsttag nur, auf den Spuren einer Geschichte zu wandeln, die keiner hatte verhindern können. Abends sahen wir noch den Film ‹Konfrontation› und führten anschliessend ein Gespräch über Frankfurters Tat, und deren Vergessenheit im Davoser Geschichtsverständnis. Was mir auf dem Nachhauseweg blieb, war die Hoffnung, dass uns eine Gegenwart gelingen möge, die in achtzig Jahren keiner solcher Erinnerungsspaziergänge bedarf.»

zVg/Johannes Frigg

Wo sich heute die Schweizerische Alpine Mittelschule befindet, wurde bis Kriegsende mit dem Fridericianum eine Deutsche Schule betrieben. Beim Ausbau des Gebäudes hatten auch die in Davos bestens bekannten Architekten Gaudenz Issler und Nicolaus Hartmann ihre Finger im Spiel. Doch hatte auch ein faschistisch gesinnter Künstler seinen Anteil bei der Gestaltung des Eingans-Reliefs? Nein, lautete die eindeutige Antwort von Nelson. Auch wenn der rechts oben zu sehende Vogel an einen Reichsadler erinnert, habe der Künstler nicht mit den Nazis zu tun. In früheren Zeiten war er bereits für die Gestaltung von Schoggitaler-Sujets verantwortlich und somit ein unbescholtener Schweizer.

zVg/Johannes Frigg

Los ging es auf dem Arkadenplatz. Timothy Nelson stieg mit seinen Erzählungen im Jahre 1928 ein. Damals wurden im vis-à-vis gelegenen Kurhaus zum ersten Male in den Zwischensemestern Universitätskurse veranstaltet. Kein Geringerer als Physiker Albert Einstein hielt damals die Eröffnungsrede. Ort des Geschehens war der heute nicht mehr existierende Theatersaal des Hotels, der Platz für rund 300 Personen bot und sich im heutigen Zweitwohnungstrakt des Europes befand. Eine bunte Mischung von Leuten nahm damals an den Kursen teil. Dieses Kapitel zeigt, dass in den «goldenen Zwanzigern» eine Völkerverständigung – auch zwischen Deutschen und Franzosen – noch möglich war.

zVg/Johannes Frigg

Das wohl geschichtsträchtigste Gebäude in Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus ist das unterste der drei «blauen Häuser» im Kurpark. Der 1936 im zweiten Stock ausgeübte Mord an NSDAP-Landesgruppenleiter Wilhelm Gustloff durch den jüdischen Studenten David Frankfurter wurde während der Führung nochmals eingehend besprochen. Auch Max Czollek (redend) brachte seine Sichtweise ein. Jürg Grasl (links von ihm) wusste zum Architektonischen noch viel zu erzählen. Denn die von Karl Overhoff geplanten Häuser gelten als wichtige Beispiele der «moderaten Moderne». Modern waren beim Bau 1933 auch die Hebeschiebfenster, die man, ähnlich wie die Fenster in Zugwaggons, mit Ziehen oder Stossen öffnen konnte. Diese Einrichtungen verschwanden aber im Zuge der Umbauten in den letzten Jahren aus den meisten Wohnungen.

zVg/Johannes Frigg

Zeitweise seien rund zehn Prozent der Davoser Bevölkerung Reichsdeutsche gewesen, währenddessen es mit dem «Etania» (siehe Bild) auch ein jüdisches Sanatorium gegeben habe, erklärte Nelson. «Eine prekäre Situation», schlussfolgerte er. Doch nicht nur das «Etania», das auch heute noch in jüdischem Besitz ist, ist ein geschichtsträchtiges Haus, auch das nebenan gelegene «Alpina» ist mit der Nazizeit verbandelt. Wie Grassl ausführte, wurde dessen Architekt, ein Herr Bode, auf die sogenannten «Hunderterliste» aufgenommen. Diese Liste wurde kurz vor Kriegsende zusammengestellt und enthielt Namen mit Menschen, die aufgrund ihrer nationalsozialistischen Gesinnung aus Davos weggewiesen werden sollten.

zVg/Johannes Frigg

Die Villa Anna veränderte im Laufe der Jahre nicht nur ihr Aussehen, sondern auch ihren Zweck. Wie Grassl erklärte, gab es früher über dem Eingang einen französischen Balkon, an dessen Geländer zeitweise eine Hakenkreuzflagge montiert war. Denn das Gebäude wurde als Vizekonsulat von Nazideutschland genutzt. Besagte Flagge wurde jedoch auch schon einmal entwendet, und zwar von Amerikanischen Internierten. Wie Nelson wusste, waren rund 300 Fliegeroffiziere aus den USA im Kurhaus stationiert. Zwei davon ärgerten sich über den Anblick, den die gegenüber ihrem Hotel liegende Villa Anna bot. So stiegen sie mit einer Leiter auf den Balkon und entfernten das Nazisymbol.

zVg/Johannes Frigg

Angeblich habe es über dem Haupteingang ein Schild gegeben mit der Aufschrift «Deutsche und Hunde unerwünscht». Gesichert ist hingegen, dass das Café Schneider zu einem Zentrum der antideutschen Bewegung in Davos wurde. Erika Mann – die Tochter von Thomas Mann – schrieb sogar Theaterstücke, die im Café aufgeführt wurden. Das Lokal sei auch ein wichtiger Ort für Grossfürst Dmitri Romanow gewesen, wusste Nelson zu berichten. Der Cousin des letzten Zaren weilte krankheitshalber in Davos. Nach seinem Tode sei seine Märklin-Eisenbahn angeblich von NSDAP-Spitzenpolitiker Hermann Göring beschlagnahmt worden, der ebenfalls Freude am Modellbau gehabt haben soll.

Kommentieren
Wir bitten um euer Verständnis, dass der Zugang zu den Kommentaren unseren Abonnenten vorbehalten ist. Registriere dich und erhalte Zugriff auf mehr Artikel oder erhalte unlimitierter Zugang zu allen Inhalten, indem du dich für eines unserer digitalen Abos entscheidest.
Mehr zu Leben & Freizeit MEHR