×

Wenn der Kranführer-Novize tonnenweise Abfall verschiebt

Abfall, nichts als Abfall – und das rund um die Uhr, 365 Tage im Jahr: Der Aufwand ist beträchtlich, um den Abfall der Wegwerfgesellschaft zu beseitigen. Mit der Frühschicht in den Katakomben der Kehrichtverbrennungsanlage Trimmis.

Südostschweiz
08.07.13 - 02:00 Uhr

Von Dario Morandi

Trimmis. – Das Churer Rheintal schläft grösstenteils noch. Unterwegs in der Dunkelheit sind nur ein paar Frühaufsteher von Berufes wegen. Es ist kurz nach 4.30 Uhr im Industriegebiet von Trimmis. Zu hören ist nur das gleichmässige Rauschen der Kehrichtverbrennungsanlage (KVA). «Ich denke, heute gibt es wenig Probleme», meint Roland Konzack. Der ehemalige Lokomotivführer aus Ostdeutschland glaubt diese Erkenntnis aus der Geräuschkulisse herausfiltern zu können. Konzack ist der Leiter der Frühschicht, die in wenigen Minuten beginnt. Mit ihm und dem Trimmiser Maschinisten Paul Schön werde ich die nächsten achteinhalb Stunden zusammenarbeiten.

Ich habe nicht den blassesten Schimmer, was mich im bizarren Gebäudekomplex erwartet, der wie der Startkomplex einer Ariane-Rakete in den noch dunklen Morgenhimmel ragt. Abfall schaufeln oder heisse Roste der beiden Ofenlinien schrubben bis der Arzt kommt? Ich weiss es nicht. Zunächst wird mir eine Arbeitskluft samt Schutzhelm verpasst. Danach geht es ab in den Kommandoraum, wo alle Fäden der prozessgesteuerten KVA zusammenlaufen. Dort wartet die Nachtschicht mit Elio Maissen und Rainer Lohr auf ihre Ablösung. «Die Pumpe A37 war zeitweise überfordert, sonst keine besonderen Vorkommnisse», heisst es. Kaum ist die Übergabe an die Frühschicht erfolgt, blinkt schon die erste Warnanzeige auf dem Überwachungsbildschirm. Die gesamte KVA kann vom Kommandoraum aus mittels wenigen Mausklicks «gefahren» werden, wie es im Jargon heisst. In der Nachtschicht reichen dafür zwei Personen aus. Für Notfälle können Pikett-Techniker aufgeboten werden. Der Alarm meldet, dass die sogenannte Siebtrommel blockiert ist, die Metallteile aus der Kehrichtschlacke herausfiltert. Dort hat sich ein Stück Eisen verklemmt, wie die Inspektion des Apparates ergibt.

Flammeninferno hinter Panzerglas

Konzack, Schön und meine Wenigkeit rütteln zunächst vergeblich an dem unförmigen Ding. Mit vereinten Kräften und einem Stahlrohr als Hebelarm gelingt es dann, den Fremdkörper zu entfernen und die Anlage wieder flottzumachen. Eine schweisstreibende Angelegenheit in der stickig-heissen Luft des Ofenhauses. «Oft gibt es keinen einzigen Alarm während einer Schicht», erzählt Konzack. «Aber manchmal hat man kaum eine ruhige Minute.» Die komplexe Technologie der Kehrichtverbrennung mit mechanischen, elektronischen, thermischen und chemischen Komponenten ist für die Belegschaft der KVA tagtäglich aufs Neue eine Herausforderung.

Weil wir gerade im Ofenhaus sind, steht der frühmorgendliche Kontrollgang an. Konzack öffnet eine Art Sehschlitz an der Front der zweiten Ofenlinie. Hinter dem Panzerglas ist das höllische rot-gelbliche und 1000 Grad heisse Flammeninferno zu sehen, das dem Abfall den Garaus macht. «Das Feuer ist ein bisschen weit hinten, aber die Verbrennung scheint gut zu sein», kommentiert er das schaurig-schöne Schauspiel. Und ich kann innerlich aufatmen: Aus dem befürchteten «Rost-Schrubben» wird definitiv nichts. Die beiden Öfen brennen rund um die Uhr, 365 Tage im Jahr. Stillgelegt werden sie für Revisionsarbeiten.

Mit Maschinist Schön ziehe ich mich danach in den Kranführerstand des Bunkers 1 zurück, wo der Kehricht angeliefert wird. Etwa 15 Meter unterhalb der staubdichten Panzerglaskanzel türmt sich ein Abfallberg in der Grösse eines Mehrfamilienhauses. Und dieser nimmt kaum an Grösse ab. Denn in den Bunkertoren löschen im 5-Minuten-Takt Kehrichttransporter ihre tonnenschweren Ladungen. Churer Säcke, Matratzen, ganze Sofas, Bettgestelle, Autoreifen und andere ausrangierte Gegenstände fallen krachend in den Bunker. Die Wegwerfgesellschaft lässt grüssen.

Steuerknüppel statt Tastatur

Jetzt schlägt meine grosse Stunde als temporärer KVA-Mitarbeiter. Schön verpasst mir eine «Schnellbleiche» als Kranführer. Wenn das mal gut geht! Statt mit einer Computertastatur wie auf der Redaktion hantiere ich nun mit zwei Steuerknüppeln, die rechts und links in den Armlehnen des Kranführersessels eingelassen sind, fast wie im Cockpit eines modernen Verkehrsflugzeugs. Schön schaltet die automatische Steuerung aus – und los gehts.

Sechs Tonnen Abfall gegriffen

Vorsichtig bewege ich den linken Joystick nach vorn – schon saust der mächtige Stahlgreifer von der Decke hernieder und krallt sich im Müll fest. Danach schliesse ich mit dem anderen Hebel die hydraulisch gesteuerten «Klauen» und ziehe mit einer weiteren Manipulation auf einen Schlag sechs Tonnen Abfall in Richtung eines Schredders, in dem die Mischung aus Sperr- und Hausmüll ofengerecht zerkleinert wird. Schön lächelt nachsichtig, als der Greifer beim nächsten Versuch voll in die Bunkerwand kracht. «Keine Sorge, das passiert uns auch manchmal», meint er. Die Arbeit als «Herr über den Bündner Güsel» macht echt Spass. Aber ich bin dennoch froh, dass das Schichtende naht. Achteinhalb Stunden am Stück fahren ziemlich in die Knochen.

Die «Südostschweiz»-Macher verlassen diesen Sommer ihre Schreibstube und steigen in die Hosen. Wir helfen mit bei der Produktion von Bündnerfleisch, machen Radio – oder arbeiten während der Frühschicht in der Kehrichtverbrennungsanlage Trimmis.

Kommentieren
Wir bitten um euer Verständnis, dass der Zugang zu den Kommentaren unseren Abonnenten vorbehalten ist. Registriere dich und erhalte Zugriff auf mehr Artikel oder erhalte unlimitierter Zugang zu allen Inhalten, indem du dich für eines unserer digitalen Abos entscheidest.
Mehr zu MEHR