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Von der «Gesindelabwehr» zur Polizei

Bislang hat die Geschichtsschreibung das Bündner Polizeiwesen eher stiefmütterlich behandelt. Für die Zeit von den Anfängen bis 1848 schafft nun Historiker Martin Camenisch Abhilfe: mit einem aufschlussreichen «Entwicklungsbericht».

Südostschweiz
06.01.13 - 01:00 Uhr

Von Jano Felice Pajarola

Chur. – Er hat Grossrats- und Regierungsprotokolle durchforstet, Gesetzessammlungen, Amtsberichte, Akten des Staatsarchivs. Immer auf der Suche nach Antworten auf zwei Fragen: Zu welchen Zwecken ist in Graubünden ein Polizeiwesen entstanden, und wie wurde das Einsetzen kantonaler Polizeibeamter legitimiert? Was Martin Camenisch, ein junger Historiker aus Laax, dabei herausgefunden hat, findet sich auf 100 Seiten im gerade erschienenen «Jahrbuch 2012» der Historischen Gesellschaft von Graubünden – als eine der ersten grösseren Untersuchungen überhaupt zur Polizeigeschichte Graubündens. Und eines wird bei der Lektüre bald klar: So selbstverständlich die Existenz einer Kantonspolizei heute scheint – einfach war ihr Aufbau gar nicht.

«Gesindel» wurde vertrieben

Das grundsätzliche Problem: Zur Zeit der Drei Bünde wollten die Gerichtsgemeinden selbst gerichtlich über ihre Bürger verfügen können – der Bedarf nach einer Landespolizei existierte in ihren Augen nicht, wie Camenisch betont. Was aber existierte, waren «herumvagierende Räuber- und Zigeunerbanden»; schon ein Beschluss der Bünde von 1696 besagt, man «möge die Männer gefenglichen oundt solche auff die Galeren verschikhen». Vor allem aber wollte man sie aus dem Kanton verjagen. Das Mittel dazu: Treib- oder Landjagden. Wehrfähige Männer wurden aufgeboten, um das «Gesindel» durch Schluchten und Wälder bis an die Grenzen und aus dem Freistaat hinauszuscheuchen – diese sogenannten «Landjägenen» sind der Ursprung des Begriffs «Landjäger». Da allerdings die Grenzen nicht bewacht wurden, schlichen sich die Verjagten alsbald wieder ein …

1767 traten deshalb drei «Harschiere» ihr Amt an – das erste Beamtenorgan mit polizeiähnlicher Befugnis, wie Camenisch feststellt, eine Art Organisations- oder Kontrolltruppe für die Treibjagden. Allerdings blühte den Harschieren dasselbe wie anderen Organen zur Zeit des Freistaats – sie wurden aus Kostengründen nach kurzer Zeit wieder abberufen.

Es kam auch zu Missbrauch

Erst nach einer Tagsatzungsverfügung von 1803 entstand das erste richtige Landjäger-Korps Graubündens – eine mit acht Mann überproportional kleine Truppe. 0,2 Polizeiwächter auf 100 Quadratkilometer – in anderen Kantonen waren es bis zu 6,5 auf dieselbe Fläche. 1807 kam ein Kantonskriminalgericht dazu. Und bald einmal waren die Landjäger nicht mehr nur eine Art «Gesindelabwehr», sondern auch «Stellvertreter der Regierung» in administrativen Verrichtungen. Mit nicht nur positiven Folgen, wie Camenisch schreibt. Immer wieder missbrauchten Landjäger ihre Machtbefugnis gegenüber der Zivilbevölkerung – ihnen fehlte eine Oberaufsicht.

Diese Aufgabe erhielt 1816 der erste Verhörrichter Graubündens, Baron Heinrich de Mont. 1818 trat de Mont sein Amt an, mit 18 Landjägern. 1830 waren es schon 34, und sie waren immer mehr auch für die einheimische Bevölkerung zuständig, hatten strassen-, gewerbe- und gesundheitspolizeiliche Pflichten zu erfüllen. Ihre Beaufsichtigung allerdings kam wegen de Monts zu hoher Arbeitsbelastung nach wie vor zu kurz. Dabei gab es gemäss de Monts eigenem Bericht unter den Landjägern solche, die «unbehülflich und schmuzig» waren. Ein anderer sei «grob und unerzogen», und an der «Stupidität» eines dritten wiederum könne nicht gezweifelt werden. 15 Landjäger wurden bis 1840 entlassen, 19 gaben den freiwilligen Austritt, 15 schieden im Lauf ihrer Dienstzeit gar aus dem Leben.

Nach 30 Jahren die Abwahl

Camenisch betont: Nicht Liederlichkeit oder Unfähigkeit allein waren die Gründe für die Missstände – die Landjäger standen unter hohem Druck, ihre Bezirke waren zu gross, die Tätigkeiten äusserst erschöpfend. Um seiner Aufsichtspflicht gerecht werden zu können, beantragte de Mont schliesslich die Trennung von Verhörrichter-Amt und Polizeidirektion. 1845 wurde er erster Bündner Polizeidirektor. Und bald darauf zum Opfer seiner eigenen Reformen: Nach Querelen mit dem Standeskassier und dem neuen Verhörrichter, nach Verschwörungsvorwürfen in der liberalen Presse und eigener Unbedachtsamkeit wurde er 1848 nach 30-jähriger Dienstzeit vom Grossen Rat abgewählt.

Das Bündner Polizeiwesen hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits entscheidend geprägt. Zu de Monts weiterem Werdegang zitiert Camenisch dessen Nachfolger Paul Janett: Das untergeordnete Amt des Bezirkskommissariats Plessur habe er danach «mit republikanischer Tugend» gleich eifrig geführt wie seine verlorene Aufgabe an der Spitze der Polizei.

Historische Gesellschaft Graubünden (Hg.): «Jahrbuch 2012». 180 Seiten. 60 Franken.

Im zweiten Teil des neuen Jahrbuchs der Historischen Gesellschaft wagt Archäologe Jürg Rageth einen Blick auf Rituale, wie sie sich auf den prähistorischen Kultplätzen Graubündens vielleicht einst abgespielt haben könnten. Rituale und Zeremonien würden natürlich kaum archäologische Spuren hinterlassen, räumt Rageth ein, man sei auf Intuitionen und «auch eine gute Fantasie» angewiesen. In einer Mischung aus Wissenschaft und Vorstellungskraft beschreibt Rageth unter anderem mögliche Bräuche wie das Tieropfer auf dem Brandopferplatz von Russonch bei Scuol, die Gabenweihe bei der Quellfassung in St. Moritz Bad oder den Totenkult von Lumbrein-Surin. Eher kritisch äussert sich Rageth notabene zur Megalith-Anlage in Falera. Insgesamt beschreibt er gut 20 grössere und kleinere Bündner Ausgrabungsorte mit ihren archäologischen Funden und deren kultischer Bedeutung. (jfp)

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