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Reise in die Vergangenheit

Die Buchautorin Mary Jean Straw Cook lebt seit über 70 Jahren in Santa Fe. Beim Besuch erhält man interessante Einblicke in das abenteuerliche Santa Fe des 19. Jahrhunderts.

Südostschweiz
03.07.11 - 02:00 Uhr

Von Andreas Trabesinger

Sanft strahlt die Sonne auf das Gesicht meiner Gastgeberin an jenem Wintertag, als ich Mary Jean Straw Cook besuche. Und sie strahlt natürliche Wärme und Grösse zurück, die fast schon vergessen gegangen scheinen. Eine grande Dame durch und durch. Und ein Quell von Geschichten und Anekdoten.

Ein Besuch bei Cook ist ein Besuch in vergangene Zeiten. Seit über 70 Jahren lebt sie in Santa Fe, hat die Stadt und den Staat New Mexico sich wandeln gesehen, ist hinausgezogen in die weite Welt, aber immer wieder zurückgekehrt nach Santa Fe und zu ihrer warmen Sonne. Cooks Hauptinteresse gilt aber nicht den Jahrzehnten, die sie selbst erlebt hat, sondern der Zeit, die sie nur aus Büchern und Zeitungsartikeln kennt, von Gemälden und vergilbten Fotos, und aus der Unzahl von Urkunden, Passagierlisten und anderen Dokumenten, von denen sie Kopien gezogen hat, die sich nun in ihrer Wohnung stapeln, säuberlich geordnet und stets griffbereit.

Wenn Mary Jean Straw Cook zu erzählen beginnt vom amerikanischen Südwesten des 19. Jahrhunderts, dann wird diese Zeit wieder lebendig, und mit ihr die Charaktere, die Santa Fe in der Zeit des Wilden Westens belebt und geprägt haben. Cook hat eine ganze Reihe von Büchern über solch schillernde Persönlichkeiten geschrieben.

Die verruchte Spielerin

Die wohl schillerndste unter ihnen mag Maria Gertrudis Barceló gewesen sein. Als einfaches Mädchen – ungebildet und des Lesens und Schreibens unkundig – kam Barceló kurz nach der Unabhängigkeit Mexikos von Spanien, im Jahr 1821, mit ihrer Familie vom Sonora nach New Mexico, welches damals noch ein Teil Mexikos war. In ihrer neuen Heimat begann sie bald, Spielsalons für Bergarbeiter zu eröffnen, und bis zur Mitte der Dreissigerjahre des 19. Jahrhunderts baute sie in Santa Fe ein blühendes Geschäft auf. «Sie war verpönt», sagt Cook, «als Spielerin und Kurtisane verrufen, aber gleichzeit brachte sie Stil und Musik nach Santa Fe.» Barceló wurde schon zu Lebzeiten zur Legende, viele Reisende und Abenteuersuchende, die durch Santa Fe zogen und an ihren Tischen gespielt und ihren Alkohol getrunken haben, trugen wahre und wahrscheinlich viel öfter erfundene Erzählungen über Doña Tules – so wurde sie genannt – hinaus in alle Teile der USA.

Auch nach dem Tod von Doña Tules im Jahr 1852 zog Santa Fe – mittlerweilen zur USA gehörig – die Menschen an. «Die Gegend ist bestechend schön, aber hier gab es auch Geld und Arbeit», so Cook. Unter den Arbeitssuchenden war denn auch Françoise-Jean Rochas, ein französischer Zimmermann, dem eine zentrale Rolle zukommen sollte in einem Mysterium, dass über hundert Jahre lang Stoff für Legenden lieferte, ehe Cook das Rätsel in einem ihrer Bücher lüftete. Oder zumindest eine plausible Erklärung lieferte.

Die «übernatürliche Wendeltreppe»

Das Mysterium betrifft die Wendeltreppe in der Loretto-Kapelle in Santa Fe, welche heute als Hochzeitskapelle der Öffentlichkeit offen steht. Die Kapelle wurde im Jahr 1872 in Auftrag gegeben, aber der Architekt starb noch während der Bauarbeiten. Als die Arbeiten schon sehr weit fortgeschritten waren, wurde offensichtlich, dass es keinen Zugang zum oberen Balkon gab. Was tun? Die Kapelle war zu klein für eine normale Treppe, und eine Leiter kam für die Schwestern mit ihrer langen Ordenstracht nicht infrage. Der Legende nach sollen die Schwestern in ihrer Ratlosigkeit neun Tage lang zum heiligen Josef gebetet haben, worauf einen Tag später ein schäbig gekleideter Mann erschien, der anbot, eine Wendeltreppe zu bauen.

Der geheimnisvolle Zimmermann wollte aber seine Arbeit komplett ungestört verrichten. So schloss er sich für drei Monate in der Kapelle ein und schuf mit einfachsten Mitteln ein Meisterwerk. Die Treppe besteht aus Holz, das nicht aus der Gegend stammt, und die Konstruktion kommt ohne zentrale Stützsäule aus und ohne Nägel – nur Holzdübel wurden verwendet. Als sein Werk vollendet war, verschwand der Schreiner ebenso geschwind wie er erschienen war. Die Identität des Mannes blieb ein Rätsel. Oft wurde das Werk gar dem heiligen Josef selbst zugeschrieben.

Aber Cook ging der Sache auf den Grund und stiess in unermüdlicher Kleinarbeit auf Françoise-Jean Rochas. Dank einer Passagierliste fand sie, dass im Laderaum des Schiffes, mit dem Rochas von Europa nach Amerika gekommen, neben Auswanderern auch grosse Mengen Holz transportiert wurden. Auch sind Treppenkonstruktionen wie die in der Loretto-Kapelle auf Schiffen zu finden, wo der Platz ebenfalls sehr knapp ist. Rochas war denn auch als Holzarbeiter bekannt, der Zeitrahmen passt ebenfalls, und schiesslich fand Cook eine Todesanzeige aus dem Jahr 1895, die Rochas – der im Alter von 43 Jahren brutal ermordet wurde – als Erbauer der Treppe von Loretto nennt. Woher die Information in der Todesanzeige stammt, bleibt unklar, und während nicht alle Fragen aus dem Weg geräumt sind, bietet Cook eine kohärente Erklärung für das unglaubliche Wunder und eine Geschichte, die einen lebhaften Einblick gibt in das Santa Fe des vorletzten Jahrhunderts.

Santa Fe sollte ein Magnet für bunte Charaktere und Abenteurer bleiben. Im 20. Jahrhundert zog es den Komponisten Igor Strawinski ebenso hierher wie die Filmgöttin Greta Garbo und mit ihr halb Hollywood. Weshalb? Mary Jean Straw Cook setzt ihr damenhaftes Lächeln auf und braucht keine Antwort zu geben.

Bücher von Mary Jean Straw Cook:

«Doña Tules: Santa Fe’s courtesan and gambler», University of New Mexico Press (2007), ISBN 978-0826343130.

«Loretto: The Sisters and Their Santa Fe Chapel», Museum of New Mexico Press (2002), ISBN 978-0890133989.

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