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«Niemand will sich beeinflussen lassen»

Der Designer Colin Schälli hat sein Atelier seit Kurzem wieder in seiner Heimatstadt Chur. Ein Besuch bei einem, der seine Ideen auf ihren Kern reduziert – und wie einen Schatz behütet.

Südostschweiz
09.11.13 - 01:00 Uhr

Julian Reich

An der Salvatorenstrasse in Chur, gleich neben der Bahnlinie, steht ein altes Gewerbehaus. Einst war es eine Seifenfabrik, heute gehört es der Wolf Transporte AG, und wenn man das Gebäude betreten und die Türe mit dem Schild «Wohnung» aufgestossen hat, durch ein dunkles, enges Treppenhaus bis ganz nach oben gestiegen ist, dann findet man ganz am Ende des Ganges das Atelier von Colin Schälli: ein Raum kaum grösser als ein Wohnzimmer. An den Wänden Industrieregale, darauf Kartonschachteln, Bücher, Holzplatten, Ordner, ein grosser Koffer, gestapelte Stühle. Vorn, beim Fenster, durch dessen Milchglas die Sonne silbern scheint, sitzt Colin Schälli auf einem Landistuhl und erzählt von seiner Arbeit, von den erfolgreichen und von den gescheiterten Projekten der letzten Jahre, von der Zukunft.

Vor ihm auf dem Tisch liegen die wichtigsten Werkzeuge eines selbstständigen Designers: ein Laptop, vier Bundesordner für die Buchhaltung und zwei Skizzenbücher. Jetzt legt Schälli seine Hand darauf und sagt bestimmt: «Die öffne ich Ihnen nicht.» Eine Maxime, die ihm sein Grossvater, der Transportunternehmer Peter Wolf, mitgegeben hat: Jede Idee sofort aufschreiben – und fürs Erste niemandem zeigen. Seine wichtigsten Entwürfe, erzählt Schälli, lagern in einem Banksafe.

Jeder Tisch ein Einzelstück

In ein solches Moleskine-Heft hat Schälli wohl auch die ersten Skizzen für seine mit dem Design Preis Schweiz prämierten Werke gezeichnet: sein 2009 für das Taschenunternehmen Freitag entworfenes Regalsystem, das heute in allen Läden der Gebrüder Freitag steht; und die Möbellinie «Contemporary Furniture», die 2011 ausgezeichnet wurde. Für diese erhielt er ausserdem eine Auszeichnung von der Stiftung Bündner Kunsthandwerk. Was zunächst überraschen mag, ist «Design» doch oftmals auf Serienanfertigung angelegt, während Kunsthandwerk genau das Gegenteil anstrebt, nämlich hochwertig gefertigte Produkte mit Unikatcharakter. Schällis Konzept führt beide Bestrebungen zusammen, indem er lediglich den Bauplan liefert, die Anfertigung jedoch lokalen Schreinereien überlässt – durch die Arbeit des Schreiners und die Wahl von lokalem Holz wird das Möbel wieder zum Einzelstück. Dieses Franchising-System schwebte ihm seit dem ersten Entwurf vor, doch noch läuft es nicht im vom Erfinder gewünschten Rahmen.

«Contemporary Furniture» ist ein Tisch- und Regalsystem, das gänzlich ohne Schrauben oder Nägel montiert werden kann, und das sich im auseinandergebauten Zustand platzsparend transportieren lässt. Man kann sich gut vorstellen, dass die Konzeptidee einen biografischen Hintergrund besitzt, ist Schälli in den letzten Jahren doch regelmässig umgezogen. So oft, sagt er, dass er seinen Tisch bis auf Weiteres nicht mehr aufbauen möchte. Anfang Oktober kam er zurück in seinen Geburtsort und schlug mit dem Holzhammer die Tischelemente ineinander, «vermöbelte» ihn, wie er mit einem Lachen sagt. Zur Illustration schlägt er mit dem Holzhammer auf die Tischplatte, was ziemlich knallt.

Direkter sei sein Arbeiten geworden, seit er wieder in Chur ist. Wieder intuitiver, wie zu Beginn seiner Karriere, die nun bereits sieben Jahre dauert Schälli, geboren 1980, gilt noch immer als Jungdesigner, was er jetzt selber feststellt, und man spürt in seinen Worten den Druck, unter den er sich trotzdem zuweilen setzt.

Eine Lampe fürs Atelier Pfister

Schällis Tun ist nicht unentdeckt geblieben. Für das Atelier Pfister hat er zum Beispiel die Lampe «Mon» entworfen, eine Bodenlampe. Ein schwarzes Eisen als Ständer schlängelt sich scheinbar endlos, als würde es den Lampenschirm durchstossen. An die Gestalt eines Strausses habe er beim Entwurf gedacht, erklärt der Designer, und dieses Bild nach und nach abstrahiert. Abstraktionsvermögen ist für Schälli eine der wichtigsten Fähigkeiten eines Designers, das Herausschälen der wichtigsten Elemente, der grundlegenden Formen und Funktionen. Was seinen Entwürfen stets eine minimalistische Note verleiht, ob er nun Möbel oder Mode designt, Bücher oder Kleiderbügel. Der Prototyp eines Kleiderbügels hängt an einer Schnur am Regal. Dazu inspiriert hat ihn der Mechanismus einer Beisszange, die sich ja, richtig gehalten, von selbst schliesst. «Jetzt warte ich nur noch, bis ich jemanden treffe, der mir das Stück produzieren kann», sagt er, eilig ist ihm nicht dabei.

Fotografieren ohne Fotoapparat

Das Thema Inspiration betrachtet der Designer differenziert: «Niemand will sich beeinflussen lassen, aber jeder wird beeinflusst. Alles ist in irgendeiner Weise schon mal da gewesen.» Ein Ort, an dem er Eindrücke sammelt, «wo ich fotografiere, nur ohne Fotoapparat», ist Japan, wohin Schälli regelmässig reist. Die japanische Kultur, die sich stark durch Zeichen definiert, fasziniert den Churer. In Tokio konnte er auch schon die eine oder andere Arbeit realisieren, Postkarten für die Tokio Station, den Hauptbahnhof, zum Beispiel. Schälli öffnet das Fenster, und plötzlich weht die weite Welt in sein wohnzimmergrosses Atelier in Chur.

Die Serie Kunst Hand Werk erscheint alle zwei Wochen und widmet sich dem Verhältnis von Kunst und Handwerk.

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