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Iva – ein Medikament mutiert zum Genussmittel

Einst war sie ein Allerwelts-Heilmittel für Mensch und Tier, dann geriet die Iva-Essenz der in Gletschernähe wachsenden Moschus-Schafgarbe in Vergessenheit. Später mutierte sie zum aromatischen Kräuterlikör und Engadiner Nationalgetränk.

Südostschweiz
29.04.13 - 02:00 Uhr

Von Heini Hofmann

Sowohl das Medikament wie das Genussmittel basieren auf der Moschus- oder Bisam-Schafgarbe (Achillea moschata, nach heutiger Nomenklatur Achillea erba-rotta subsp. moschata). Im Aussehen gleicht sie der gewöhnlichen Schafgarbe, hat sich aber durch Verkleinerung der Alpenflora angepasst. Diese aromatisch riechende Pflanze ist vor allem in den Ostalpen verbreitet. Sie kommt in Steinschuttfluren und lückigen Rasen in kalkarmer, alpiner Stufe bis über 3000 m ü. M. vor. Ihre Bitterstoffe und die Wirkstoffe im ätherischen Öl galten schon seit Jahrhunderten als heilsam bei Appetitlosigkeit und Magen-Darm-Störungen.

Heilmittel mit Tradition

Aus dem zur Blütezeit im Hochsommer gesammelten und getrockneten Kraut wurde ein Hausmittel zubereitet, das innerlich als Tonikum, äusserlich als Wundmittel bei Mensch und Nutztier Verwendung fand. Im Bündnerland werden die Blätter als Wildfräuli-Chrut («wilde Fräulein» = Berggeister), die Blüten als Wildmännli-Chrut bezeichnet. Rätoromanisch heisst die Pflanze iva, flur d’iva oder (im Oberengadin) plaunta d’iva. Im Tirol hört sie auf den Namen Almkamille oder Jochgramille, wohl wegen ihrer Ähnlichkeit mit der Kamille bezüglich Geruch und Verwendung.

Bereits der Zürcher Naturforscher und Arzt Conrad Gessner erwähnte im 16. Jahrhundert die Art «Iva moschata Rhaetis» in seinem «Hortus Germaniae». Auch der Berner Naturgelehrte Albrecht von Haller berichtete 1768 über die medizinische Anwendung der Iva-Pflanze: «Die Bergbewohner bereiten aus der Iva einen Tee, um den Schweiss zu treiben. Dagegen wird die Essenz bei Blödigkeit, Unverdaulichkeit, Schwäche des Magens, Blähungen und Grimmen mit Nutzen gebraucht.»

Die Verwendung der Iva-Pflanze zu Heilzwecken datiert also viel weiter zurück als das daraus gewonnene alkoholische Getränk. Doch schon 1782 berichtete der Bündner Pfarrer Gujan, dass «im Engadin seit vielen Jahren ein geistiger, angenehmer Liqueur aus dieser Pflanze zubereitet wird». Die Bündner Zuckerbäcker haben dann in ihren über ganz Europa und darüber hinaus verbreiteten Kaffeehäusern und Konditoreien den Iva-Likör weitherum bekannt gemacht.

Pfarrer Künzle des Engadins

Grösster Promotor der Iva-Tradition war der Vater des Oscar Bernhard, des berühmten Engadiner Alpenmediziners und Begründers der Heliotherapie. Vater Samuel Bernhard war Apotheker und so etwas wie der Pfarrer Künzle des Engadins, ein grosser Kenner der Heilkräuter. Nachdem er 1854 in Samedan eine Apotheke eröffnet hatte, begann er 1860 mit der Herstellung dieses Kräuterlikörs, anfänglich in der Apotheke, später in einem extra errichteten Fabrikationsbetrieb. Dies geschah – basierend auf alter Tradition, aber eigener Rezeptur – durch Mazeration und Extraktion der getrockneten Blätter und Blüten der Iva-Pflanze.

Seine Flaschenetikette und die Zeitungsinserate zierte ein holdes Mädchen mit Blumen im Haar, die in hehrer Alpenwelt die Iva-Pflanze pflückt. Wer konnte da widerstehen? Der Iva-Likör wurde zum Renner. So war denn dieser «Bernhard-Gesundheits-Dessertliqueur ersten Ranges mit chemisch-ärztlichen Gutachten, empfohlen von Autoritäten der Wissenschaften, prämiert an Welt- und Landesausstellungen und zu haben in Apotheken, Delicatesshandlungen und Restaurants» (man stelle sich solche Werbung heute vor!), weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt und beliebt.

An der Landesausstellung 1887 in Zürich wurde dem Iva grosse Zukunft vorausgesagt: «Ausser dem Wermuth, den wir gleichsam als den Stifter der Liqueurfabrikation in Europa zu betrachten haben, gedeiht aber auf unseren Bergen noch ein anderes feines Kräutlein, lange unbeachtet, aber mit edlen Eigenschaften, würdig ihm einen Weltruf zu verschaffen.» Bernhards Iva-Liqueur wurde im Ausstellungsbericht als «eine der besten und hervorragendsten Leistungen im Gebiete der schweizerischen Liqueurindustrie» belobigt.

Crême und Fleur d’Iva

Iva gab es in vier verschiedenen Konfigurationen, nämlich einen Bitter und einen Wein als «Heilmittel» sowie zwei delikate Liköre. So steht im «Archiv der Pharmacie» von 1880: «Die von Apotheker Bernhard in Samedan im Grossen dargestellten Ivapräparate sind: Ivabitter, weingeistige Tinctur der Pflanze, Ivawein, Auszug der Pflanze durch kräftigen Weisswein, Crême d’Iva und Fleur d’Iva. Letztere beide sind feine Liqueure, mehr dem Geschmacke huldigend. Die ersteren – Ivabitter und Ivawein – sind dagegen thatsächliche Heilmittel, sowohl als Verdauungsbeförderer zu empfehlen, wie als nervenstärkend und fieberwidrig.»

Zeitungsannoncen lobten den Iva-Bitter mit «äusserst günstigen Wirkungen auf den Magen und, verdünnt, als anregendes und erfrischendes Getränk bei Bergtouren», während sie den Iva-Wein als «Frühgetränk an Stelle des Marsala oder Wermuth» empfahlen, so ganz nach dem Motto: Guten Morgen – und Prost! In einem überlieferten schwarzen Carnet sind handschriftlich feinsäuberlich die ganzen Fabrikationsschritte samt Preisberechnungen und Skizzen der Destillationsapparatur festgehalten, ebenso die Rezepturen mit allen im Laufe der Zeit vorgenommenen Verbesserungen.

Auch das Sortiment wurde laufend erweitert, so etwa mit Bernina-Likör, Parfum de la Maloja oder Chartreuse-Imitation, aber auch mit Kaffee-, Cacao-, Vanille-, Pomeranzen (Bitterorangen)-, Anisetta- und Kümmel-Likör. Dazu kamen Spezialitäten wie Bernhard-Bitter, Wermuthwein (Vinum absinthii), Eisen-China-Wein und Vino di Torino, ferner Brause-Limonaden, Sirop d’Oranges und Punsch-Essenzen. Vater Bernhard war ein tüchtiger Geschäftsmann.

Die Iva-Fabrik in Samedan

Die 1878 von ihm in Samedan erbaute und 1880 eröffnete Iva-Fabrik war einer der ersten industriellen Kleinbetriebe im Dorf. Sie stand vis-à-vis vom Kurhaus (heute: Academia Engiadina). Diese Standortwahl direkt beim 1870 neu eröffneten Luxushotel war wohl Strategie; denn auch in andern Alpenkurorten verschiedener Länder vertrieben findige Apotheker ihre Likörspezialitäten in Hotelnähe, da ihre Abnehmer vor allem die Kurgäste waren.

Das ehemalige Gebäude der Iva-Fabrik im Samedner Ortsteil Quadratscha (damals Vorstadt genannt) existiert notabene heute noch, erkennbar an der auf den Ecksteinen markant angebrachten, überlagerten Buchstabenkombination IVA. Auch das Grab von Samuel und Christina Bernhard bei der Kirche San Peter oberhalb von Samedan ist immer noch vorhanden. Später ging die Iva-Fabrik Konkurs, wie einem Protokoll von 1888 zu entnehmen ist. Wahrscheinlich hatte damals schon Alfred, der jüngere Bruder von Oscar, der wie Vater Samuel ebenfalls Apotheker war, die Verantwortung inne. Auch ein Neustart dank einem Darlehen des inzwischen berühmt gewordenen Alpenmediziners Oscar Bernhard an seinen jüngeren Bruder Alfred dauerte nicht lange; 1908 kam es definitiv zum Verkauf.

Gigantismus – schon damals

Wie es nachher weiterlief, bleibt nebulös. Interessant ist jedoch ein «Gutachten über die Gründung einer schweizerischen Gesellschaft zur Herstellung von Iva-Likören», das 1913 in Zürich erstellt wurde, den Namen Bernhard nur einmal ganz marginal aufführt, sich wie ein Strategiepapier für eine unfreundliche Übernahme liest und von grosstrabenden Plänen überquillt. Da wird ventiliert, wie die Konkurrenzfabrikate Chartreuse und Benediktiner (Letzterer mit geschätztem Jahresverbrauch von 30 Millionen Flaschen) zu übertrumpfen wären …

Das Dokument enthält Rentabilitätsberechnungen und Absatzvisionen für die Schweiz, für Italien, Spanien und Portugal, ja sogar für Südamerika. Zudem Marketingstrategien, die ebenso gut von einem modernen Grossverteiler stammen könnten. Doch solch ambitiöse Pläne blieben Luftschlösser, zeigen aber, dass da, wo einer eine gute Idee hat, sich bald die Geier an den gedeckten Tisch zu setzen versuchen.

Fabrikations-Odyssee

Gemäss Kaufprotokollen ging später die Iva-Fabrikation (als eingetragener Markenname) mehrmals in andere Hände über, kam von Samedan nach Chur und wiederum später von hier nach Davos (heute: Schiers) in einen Familienbetrieb, wo der Name Bernhard immer noch getreulich auf den Flaschenetiketten beibehalten wurde, bis dann in den 1990er-Jahren die Originalessenz zu Ende ging und die Lebensmittelverordnung solchen Historismus ohne genauen Herkunftsnachweis ohnehin nicht mehr zugelassen hätte. Zwar wird hier auch heute noch Iva-Likör produziert, doch die Erinnerung an Samuel Bernhard auf den Flaschenetiketten ist nun definitv verschwunden.

Aktuell gibt es im Engadin aber immer noch viele Private, die den Iva für den Eigengebrauch herstellen, praktisch jeder nach eigenem Rezept. Einer von ihnen, der 84-jährige Guido Huder in Scuol, besitzt sogar noch Originalflaschen (samt Inhalt!) von Apotheker Samuel Bernhard. Wer weiss, vielleicht greift ein cleverer Unternehmer diese Idee doch wieder mal auf; denn einheimische Naturprodukte aus den Bergen feiern heute ja Urständ, und vielleicht fände es die mondäne St. Moritzer Highsociety ganz apart, statt eines obligaten Champagner-Cüplis mal einen geschichtsträchtigen Iva zu genehmigen …

Das Buch zum Thema: «Gesundheits-Mythos St. Moritz», die umfassende Oberengadiner Medizingeschichte (Rang drei im Rating «Bündner Buch des Jahres 2012»), widmet sich auch dem Thema Iva. Verlag Montabella, St. Moritz, 440 Seiten, reich bebildert, 98 Franken. ISBN 978-3-907067-40-6, erhältlich im Buchhandel oder direkt zu beziehem beim Autor: Heini Hofmann, Hohlweg 11, 8645 Jona; Tel. 055 210 82 50, Fax 055 210 82 64.

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