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Geliebte, gefürchtete Dertgira nauscha

Immer am Fasnachtsmontag fragen sich die Disentiser: Wer wird heute Abend vom närrischen Strafgericht durch den Kakao gezogen? Auf Stippvisite bei der Dertgira nauscha.

Südostschweiz
09.03.11 - 01:00 Uhr

Von Jano Felice Pajarola (Text und Bilder)

Disentis. – Die Kulisse: ein hell angestrahlter Galgen vor brandschwarzer Nacht, daran zwei Stricke, die Henkerknoten geknüpft. Zwei Rednerpulte für das Gericht. Die Musik, bombastisch: Sergei Prokofjews «Montagues und Capulets», mächtig dröhnt sie aus den Lautsprechern und wird doch allmählich übertönt von den herannahenden Bagordas. Die Guggenmusik bahnt sich einen Weg durch die Menge auf dem Disentiser Schulhausplatz in Cons, es ist Fasnachtsmontag kurz nach 20 Uhr, wie jedes Jahr Zeit für den geliebten und gefürchteten Schlusspunkt der närrischen Tage. Die Dertgira nauscha, das Strafgericht des Fasnachtsvereins, wird ihre Fälle vortragen und später, in gut einer Stunde, ein Urteil fällen. Ein Todesurteil, das zumindest ist sicher. Wer und was bis dann auf die Schippe genommen und scharfzüngig kommentiert wird, das wissen vorläufig nur die Richter und ein paar wenige Eingeweihte. Und die wissen zu schweigen.

Die Instrumente der Bagordas verstummen, die letzten Prokofjew-Akkorde verklingen. Das Gericht, begleitet vom «prenci tscheiver» und seinem Gefolge, dem Fasnachtsprinzen, eröffnet die Verhandlung.

Das Richteramt ist nicht begehrt

Derselbe Ort, am Nachmittag. Fabian Huonder und Tina Bundi, die Richter der Dertgira nauscha, stecken mitten in den letzten Vorbereitungen für den Abend. Den Galgen und die Rednerpulte haben die Leute vom Fasnachtsverein bereits aufgestellt, «die Requisiten lagern wir in einem Raum hier im Schulhaus», sagt Vereinspräsident Gion Hosang, Novize in diesem Amt und – für ihn ebenfalls eine Premiere – als «prenci tscheiver» im Einsatz. Das Strafgericht in seiner heutigen Form gibt es nun schon seit mehr als 20 Jahren, «da hat sich das Aufstellen eingespielt», meint Hosang. Auch «derschader» Huonder ist ein Altgedienter, seit 2003 waltet er schon als Richter, er ist inzwischen beinahe die Personifizierung der Dertgira nauscha. Tina Bundi hingegen ist das erste Mal mit von der Partie. Eingefleischte Fasnächtlerin ist sie längst; vor Hosang hat sie ein Dutzend Jahre den Fasnachtsverein präsidiert. Lampenfieber wegen ihres neuen Amts hat sie kaum, die erfahrene Hobbyschauspielerin. «Ich habe Fabian gesagt, ich würde gern mal Richterin sein. Wenn du niemanden findest, dann mache ich es.»

Huonder hatte tatsächlich Rekrutierungsprobleme, Zylinder und Frack hätte es für drei Richter, mit dabei waren bereits 2010 nur zwei, und ohne Tina Bundi wäre Huonder dieses Jahr wohl zum Einzelrichter mutiert. Beim Vorbereiten der satirischen Texte – eine Arbeit, die jeweils zwei Monate im Voraus beginnt und Stunden um Stunden verschlingt – half Hosang als Co-Autor mit. Mit spitzer Feder sollen die Fälle beschrieben sein, aber auch so, dass man sich am Tag nach der Dertgira noch sicher fühlen kann auf den Strassen von Disentis, wie Huonder mit einem Schmunzeln meint.

In alter Zeit wars wirklich «böse»

Ihr Fett bekommen sie aber trotzdem alle ab, die Persönlichkeiten und Institutionen in der Region, von Tschamut bis Chur. Politiker, Touristiker, Kirche und Kloster, Romontschets und Romontschuns, auch an diesem kalten Fasnachtsmontagabend wieder (siehe Kasten). Das Publikum amüsiert sich, und auch der eine oder andere Persiflierte lacht mal mit, wenn auch vielleicht mit einem Zähneknirschen.

Blickt man zurück in die Geschichte, wars aber nicht immer lustig mit der Dertgira nauscha. Das Bündnerromanische Grosswörterbuch Dicziunari Rumantsch Grischun weiss mehr dazu. Das – so die wörtliche Übersetzung – «böse Gericht» war in barocker Zeit eine Institution der Knabenschaften, nicht nur in Disentis. Diese nämlich nahmen für sich unter anderem auch eine rechtsprechende Rolle in Anspruch. Eine zwar nicht offiziell anerkannte, aber gefürchtete Parallelgerichtsbarkeit neben jener des Staates, bei der zum Beispiel als fehlbar eingestufte Mitbürger mit Katzenmusik oder Wassertauche gebrandmarkt wurden. Auch Misshandlungen konnten vorkommen. Die Knabengerichte waren illegal, unterbunden aber wurden sie erst im 19. Jahrhundert – und sie erhielten sich als Narrenpossen. In Disentis gab es das Gericht längstens bis zum Franzoseneinfall anno 1799. Was man heute als Dertgira nauscha kennt, wurde erst 1989 von Mitgliedern des Fasnachtsvereins als – im Vergleich zu früheren Zeiten harmlose – Tradition neu eingeführt.

Wenn der Narr zum Henker wird

Wobei harmlos natürlich relativ ist. In Tina Bundis Küche liegen, es ist Nachmittag, zwei Strohpuppen am Boden, bereit fürs «Ankleiden», am Galgen werden die beiden am Abend enden, gehängt vom Narren, einer der Figuren aus dem Gefolge des «prenci». Es war keine einfache Entscheidung dieses Jahr, «wir hätten Andreas Wieland wählen können, wegen seiner Aussage zum Romanischen, oder die Glockendiebe in der Surselva», erzählt Huonder. Doch es sollte zwei andere treffen. Tina Bundi zieht den Puppen eine Toga über, schnallt ihnen einen Gürtel um, setzt einen Helm auf, einen etwas zu schweren, die Köpfe hängen schlaff auf die Brust. «Ach, wenn sie aufgeknüpft sind, sieht das dann schon gut aus», meint Huonder trocken.

Es ist 21 Uhr vorbei. Die Bagordas, die Fifferlottas, die Vagabunds haben dem Publikum kräftig eingeheizt, der Glühwein wärmt. Das Urteil fällt. Tiberius und Drusus, ihr Eroberer Rätiens und Verursacher des rätoromanischen Sprachgewirrs, an den Galgen mit euch!, finden die Richter. Der närrische Henker waltet seines Amts. Der «prenci» ruft: «Eviv’il tscheiver!» Die Übeltäter sind tot – «es lebe die Fasnacht». Und mit ihr die Dertgira.

Wer wurde dieses Jahr «Opfer» der Dertgira nauscha? Fast obligatorisch dabei: Gemeindepräsident Dumeni Columberg. Statt «Pensionierte» anzufragen, solle man sich doch für die Ära nach Columberg überlegen, ob nicht die Medelser ihren «Zürcher» Gemeindepräsidenten mit Disentis teilen wollten, so der Vorschlag der Richter. Was es im Ort wohl nie geben wird: eine Via Columberg, analog zur Via Maibach in Ilanz – in Disentis hätten bislang nur Heilige genug geleistet, um eine Strasse zu bekommen. «Wer das also will, hat eine einzige Chance: heilig werden!»

Als Hilfe beim Beilegen der Tourismuswirren zwischen Sedrun und Disentis solle man die Involvierten doch Panini-Bildchen mit ihren eigenen Konterfeis tauschen lassen – «so müssen sie wieder reden miteinander». Für die Disentiser Behörde sei dabei nur ein Bildchen nötig – dafür ein grosses … Die temporär auszusiedelnden Disentiser Altersheimbewohner hätte der darauf Abgebildete gemäss Dertgira zudem nicht im Kloster und in Medel unterbringen müssen, «in Tenigerbad wär es auch schon seit Jahren wunderbar leer».

Klar war für die Richter: Um das Romanische zu retten, hätte man statt der Pro Idioms besser einen Verein «Pro pops romontschs» gegründet. Denn was braucht es für die Spracherhaltung vor allem? Babys natürlich, logisch. «Es gäbe dann Aktiv- und Passivmitglieder. Die Aktiven hätten eher, wie soll man sagen – den Genuss …»

Die Dertgira nauscha kommt übrigens 2012 wieder. Bei der traditionellen Abstimmung am Schluss des Abends konnten Neinstimmen nur per SMS abgegeben werden. Und weil das Gericht kein Handy hat, gabs auch keine Gegenvoten. (jfp)

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