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Fahnenschwingen als Meditation

Sie sind Exoten in Graubünden: Nur zwei Bündner Fahnenschwinger sind am Eidgenössischen Jodlerfest vertreten. Einer der beiden ist Andreas Oesch aus Vals. Für ihn ist das Fahnenschwingen entspannend – wenn es kein Wettkampf ist.

Südostschweiz
21.06.14 - 02:00 Uhr

Juscha Casaulta

Er bezeichnet sich als Auswärtigen in Vals. Andreas Oesch stammt aus Balgach SG, gelangte vor zehn Jahren beruflich nach Vals und ist der Liebe wegen geblieben. Oesch ist Geschäftsführer und Mehrheitsaktionär der Beratungsfirma Logman AG. Und oft beruflich unterwegs. Das sei der Bogen zum Fahnenschwingen, sagt er. Vor knapp zwei Jahren sass er am Stammtisch des Jodelchors von Vals. Seine Frau Andrea und sein Schwiegervater Beat Loretz sind Mitglieder des Chors. In dieser Runde äusserte ein Kollege, Oswald Tönz, spontan, er würde gerne Fahnenschwingen. Oesch fand das eine gute Idee und sagte, er mache mit. Kurze Zeit später besuchten die beiden in Stäfa einen Kurs und bekamen mit, wie das Schwingen funktioniert und was man mit einer Fahne so alles machen kann. «Das Resultat war, dass die Fahne eher mit uns etwas machte, als wir mit ihr.» Er lacht.

Zum Training nach Klosters

Aber so schnell gaben die Beiden nicht auf. Sie begannen fleissig zu üben. Zudem erfuhren sie, dass es in Graubünden noch einen Fahnenschwinger gibt, Mario Casanova aus Klosters. Oesch und Tönz meldeten sich bei ihm. «Er hat uns in den Anfängen begleitet.» Viel voraus sei Casanova nicht gewesen. «Aber die Grundlagen beherrschte er deutlich.» Oesch war voll motiviert, zusammen mit Tönz einmal die Woche abends von Vals nach Klosters zum Training zu fahren. Sein Kollege musste jedoch einer Schulterverletzung wegen längere Zeit aussetzen und verpasste so die Qualifikation für das Eidgenössische Jodlerfest in Davos. Oesch und Casanova hingegen haben es geschafft. Sie werden im Einzelwettkampf starten. Was fasziniert Oesch denn am Fahnenschwingen? «Die Idee, damit anzufangen, kam in einer Zeit, als ich es beruflich wirklich sehr streng hatte.» Er schaffte es nur schwer, sich am Feierabend gedanklich auszuklinken, sich zu entspannen. Anders beim Fahnenschwingen. «Da kann ich in kurzer Zeit völlig abschalten.» Es habe einen meditativen Charakter, wenn man einmal die ersten Hürden überwunden habe und die ersten Schwünge beherrsche.

Sonst ist die Kunst dahin

Beim Fahnenschwingen darf nichts Hastiges passieren, sonst ist die Kunst dahin. Oesch trainiert oftmals auch morgens kurz zu Hause auf der Terrasse oder nimmt die Fahne auf Geschäftsreise mit. Die grösste Herausforderung für ihn ist, sich einer Jury zu stellen. «Da kommt man sich vor wie ein kleiner Schulbub.» Selbst gestandenen Fahnenschwingern ergehe es so. Man habe wirklich weiche Knie und das Gefühl, man versinke in sich selber. Der 48-Jährige ist nicht nervös, wenn er vor Hundert Leuten sprechen muss oder neue Herausforderungen auf ihn warten. «Das kenne ich nur beim Fahnenschwingen.»

Eigentlich könne er in Davos entspannt in den Wettkampf steigen, da er wohl nicht in den vorderen Rängen mitschwinge, aber in diesem Moment werde er bestimmt wieder starkes Lampenfieber haben. Oesch erklärt, worauf die Jury achtet. Der Vortrag dauert drei Minuten. In dieser Zeit sollte das Programm, das jeder selber wählen kann, beendet sein. «Das ist eine der Schwierigkeiten, in drei Minuten auf den Endpunkt hin zu schwingen.» Während des Schwingens steht man in einem Kreis von 60 Zentimeter Durchmesser. Der darf nicht überschritten werden. Zudem ist Wippen nicht erlaubt, die Fahne darf sich nicht verwickeln und natürlich nicht auf den Boden fallen. «Es sind viele Qualitätsmerkmale, die eine Rolle spielen, wie die Qualität der Fahnenführung.» Jeder der vier Juroren achte auf ein anderes Thema. «Da herrscht totale Kontrolle.» Üblicherweise wird im Hintergrund Musik abgespielt. «Meistens die falsche, irgend ein Ländler.» Er lacht. Tatsache sei, dass man die Musik gar nicht wahrnehme. Obwohl, am angenehmsten seien Alphornklänge.

Auch die Kleidung ist vorgeschrieben: schwarze Schuhe, schwarze Hose, weisses Hemd, Krawatte, Sennakuttali. Man kann auch in jeder Tracht antreten. Wichtig ist die Bewegungsfreiheit. Die etwa ein Kilo schwere Fahne wird natürlich auch kontrolliert. Sie besteht aus Seide oder Kunstfaser. Eine Fahne habe Qualität, wenn das Sujet aufgenäht und nicht gedruckt sei. Die Bündnerfahne hat viele Nähte. «Trotzdem fliesst sie sehr schön.» Mit welcher wird er auftreten? Mit jener seines Heimatkantons St. Gallen? Würde er gerne. «Aber nach Davos gehört klar die Bündnerfahne.» Vom Fest erwartet Oesch gemütliche Stunden. Er sei nicht einer, der permanent Jodelklänge hören wolle. Aber die Geselligkeit der Jodler, mit ihnen zusammen zu sitzen, das schätzt er sehr.

Vom 3. bis 6. Juli findet in Davos das Eidgenössische Jodlerfest statt. Das BT beleuchtet in einer Serie die Hintergründe der Volkskultur.

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