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Ein Hotelbus kommt hier nicht vorbei

Die Chamanna Cluozza ist die einzige bewirtete Hütte im Schweizerischen Nationalpark. Hüttenwarte sind zwei Berner Oberländer. Mit Sohn Tim verbringen sie bereits den vierten Sommer in der Val Cluozza.

Südostschweiz
16.07.14 - 02:00 Uhr

Von Fadrina Hofmann

Zernez. – 11 Uhr an einem Julimorgen. Der Himmel ist bedeckt, die Temperaturen alles andere als sommerlich. Jürg Martig sitzt im Wollpullover an einem Holztisch vor der Chamanna Cluozza. Mit der rechten Hand hält er das Telefon ans Ohr, mit der linken Hand blättert er in einem dicken Reservierungsbuch. Die Seiten sind vollgeschrieben. Tatsächlich ist die Hütte bis Mitte August komplett ausgebucht. Bedauernd muss der Hüttenwart die Anfrage absagen. «Wir hatten schon vorher eine gute Auslastung, aber seit einer SRF-Sendung über Hütten im letzten Jahr hat es stark angezogen», erzählt Martig zwischen zwei Schlücken Kaffee. Die Werbung zum 100-Jahr-Jubiläum des Nationalparks trage das Übrige dazu bei.

Die klassische Nationalparkwanderung führt an der Chamanna Cluozza vorbei. Von Zernez aus dauert der Aufstieg rund dreienhalb Stunden. Von der Hütte weg gibt es drei verschiedene Routen zur Erkundung des Nationalparks. Die meisten Touristen machen einen Halt bei der Chamanna Cluozza, trinken oder essen eine Kleinigkeit, beobachten Tiere oder lassen sich auf einen Schwatz mit den Hüttenwarten ein.

Schule auch auf 1882 m.ü.M.

«Der Kontakt mit den Leuten macht mir am meisten Spass bei dieser Arbeit», sagt Martig. Es war sein Traum, einmal Hüttenwart zu sein. Mittlerweile verbringt er mit Ehefrau Marlies und dem zehnjährigen Sohn Tim bereits den vierten Sommer in der Val Cluozza. Von Mitte Juni bis Mitte Oktober ist die Blockhütte auf 1882 m.ü.M. das Zuhause der Familie aus dem Berner Oberland. Noch hat Tim Zeit, um für die Gäste das Fernrohr zu richten und ihnen die Gämsen und Hirsche zu zeigen. Sobald die Schule in Spiez wieder beginnt, muss aber auch er erneut über die Schulbücher. Jeden Morgen sitzt die pensionierte Lehrerin Anna dann mit Tim beim Einzelunterricht im grossen Dachzimmer der Pächterfamilie. Erst am Nachmittag ist Spielen angesagt – meist mit Kindern, die eine oder mehrere Nächte mit ihren Eltern in der Hütte verbringen.

Auch Vater Jürg kennt das Hüttenleben bereits von Kindsbeinen an. In Kandersteg aufgewachsen, hat Jürg Martig schon früh Erfahrungen als SAC-Hüttenjunge sammeln können. Der gelernte Schreiner ist zudem Bergführer in fünfter Generation. Diesen Tätigkeiten geht er auch nach, wenn er nicht gerade mitten im Nationalpark wohnt. Frau Marlies ist gelernte Zahnarztgehilfin. Dass die Familie ausgerechnet in der Chamanna Cluozza gelandet ist, ist eigentlich ihr Verdienst. «Als wir vor fünf Jahren als Gäste hier waren, war für mich klar: Wenn schon eine Hütte, dann so eine», erzählt sie bei Spaghetti Bolognese und Quellwasser. Nur ein Jahr später hörte das Ehepaar Duschletta aus Zernez nach 25 Jahren als Hüttenwarte auf und die Familie Martig wurde als Nachfolgerin auserkoren.

Die Chamanna Cluozza gehört dem Schweizerischen Nationalpark. Errichtet wurde sie 1910 im Auftrag der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft. 1993 wurde die Hütte letztmals von Grund auf renoviert. Sie verfügt unter anderem über eine biologische Kläranlage und ein Kleinkraftwerk. Die Hütte bietet Platz für 63 Personen in Mehrbettzimmern und Matratzenlager. 80 Prozent der Gäste kommen laut Jürg Martig aus der Schweiz. Es sind Familien, frischverliebte Pärchen, aber auch Einzelpersonen und ältere Paare. «Zu uns kommen natürlich die Wanderer und Naturliebhaber», sagt der Hüttenwart. Im Schnitt besuchen täglich zwischen 20 und 60 Touristen die Chamanna Cluozza. Rund 4500 Gäste pro Sommer übernachten in der Hütte. Laut den Erzählungen des Hüttenwarts kommt es auch mal vor, dass Gäste vom Bahnhof Zernez aus anrufen, um den «Hotelbus» zu bestellen. Die Ernüchterung sei jeweils gross, wenn es heisst, dass ein Fussmarsch der einzige Weg bis zur Hütte sei.

17 Stunden Arbeit: das kommt oft vor

Die Tage von Jürg und Marlies Martig und ihren vier Mitarbeitern beginnen früh und enden spät. Frühstück ab 6.30 Uhr, Zimmer neu herrichten, putzen, kochen, aufräumen, abwaschen, Tagesgäste bedienen, Hausgäste durch die Hütte führen, Lichterlöschen um 22 Uhr - die Arbeitstage dauern nicht selten 17 Stunden. «Knochenarbeit», gibt Marlies Martig unumwunden zu. Für ihren Mann kommt noch die ganze administrative Arbeit hinzu: Reservierungen, Lieferbestellungen, Buchhaltung. Auch Tim hat seine Aufgaben, zum Beispiel zeigt er den Gästen ihre Zimmer. «Das macht er gerne», verrät die Mutter mit einem Augenzwinkern.

Für Marlies Martig war der Einstieg ins Hüttenleben schwieriger als für ihren Mann. «Mir fehlen hier mein Umfeld und meine Freiheit», sagt sie. Die vielen schönen Begegnungen in der Hütte würden sie aber für diese Entbehrungen entschädigen. Zudem habe Tim hier mehr von seinem Vater. «Als Bergführer war ich sehr oft unterwegs und irgendwann habe ich gemerkt, dass ich so die halbe Kindheit von Tim verpasse», erzählt Jürg Martig. Jetzt lebt die Familie während vier Monaten auf engstem Raum zusammen. «Das schweisst zusammen, trotz Stress und fehlender Privatsphäre», sagt Jürg Martig. Er schätze an seiner Funktion als Hüttenwart auch, dass er selbstständig arbeiten könne, Verantwortung tragen dürfe, organisiere und improvisiere. Ab und zu ist der Hüttenwart auch als Psychologe gefragt. Freizeit bleibt der Hüttenwart-Familie in der Hochsaison so gut wie keine. «Umso wichtiger ist es, sich kleine Freiräume zu schaffen», meint Martig.

Kleine Freiräume sind wichtig

Das Familienfrühstück, nachdem die Gäste gegangen sind, schätze er beispielsweise sehr. Zu seinen persönlichen, wenn auch seltenen Highlights gehört auch die frühe Morgenwanderung nach Zernez, um Brot zu holen. «Dann sitze ich in einem Café, lese Zeitung und kehre später mit 35 Kilo Brot wieder zurück», erzählt er. Das meiste bringt einmal im Monat der Helikopter. Damit wird auch der Kehricht und das Altglas wieder ins Tal transportiert.

In der Chamanna Cluozza ist der Tagesablauf immer gleich. Freude hat die Familie Martig am meisten an der Natur, zum Beispiel an Hirschen, die sich in unmittelbarer Hüttennähe aufhalten, oder an den goldenen Herbsttagen. «Für die Familie ist es eine enorme Bereicherung, hier sein zu dürfen», meint Jürg Martig. Wie lange die Familie ihre Sommer in der Val Cluozza verbringen werden, wissen die Martigs allerdings nicht.

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