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Die verlorenen Jahre von Maryam und Bahur

Seit mehr als zweieinhalb Jahren lebt der syrische Musiker Bahur Ghazi Aljamous mit seiner Frau Maryam Faragallah in Graubünden und wartet auf einen Entscheid über ihren Asylantrag.

Südostschweiz
17.05.14 - 02:00 Uhr

Julian Reich

Das Schlimmste ist nicht das Zimmer, das man in drei Schritten durchquert hat, nicht das Ungeziefer, das in der Nacht über einen kriecht, nicht die Küche, wo sich 70 Menschen um acht Herdplatten streiten, nicht die stinkende Toilette, auch nicht das Desinteresse der Betreuer. Das Schlimmste, sagt Bahur Ghazi Aljamous, ist das Warten.

Jeden Morgen steht Bahur um zehn Uhr vor dem Anschlagbrett im Ge- meinschaftsraum des Transitzentrums Rheinkrone in Cazis und sucht seinen Namen auf einem Blatt Papier. Wieder keine Post aus Bern. Er geht die Stufen hoch in den zweiten Stock, zurück ins Zimmer 209, wo Maryam auf ihn wartet, seine Frau. Er setzt sich auf das Ausziehsofa. Bahur kaut jetzt Fingernägel. Das tat er früher nie. Bahur wartet.

Bahur Ghazi Aljamous, 26, syrischer Staatsbürger, eingereist am 15. 7. 2011, Asylantrag am 20. 7. 2011, ist einer von vielen. 826 Asylgesuche syrischer Bürger zählte das Bundesamt für Migration im Jahr 2011. Das war vor dem Krieg. Die jüngste Statistik sagt, dass zwischen Januar und März über 1100 Syrer Asyl in der Schweiz beantragt haben.

Bahur mag einer von vielen sein. Aber kaum einer wartet schon so lange.

Die Liebe

Dabei ging bei ihm alles immer ein wenig schneller als bei den anderen. Er ist als jüngstes von elf Geschwistern in Da’el aufgewachsen, einer Stadt mit 40 000 Einwohnern im Südwesten Syriens, unweit der Grenze zu Jordanien. Die Familie lebte vom Olivenanbau, man lebte nicht schlecht. Einer seiner Brüder spielte Oud, eine Vorläuferin der europäischen Laute. Bahur war sofort fasziniert. Schnell machte er Fortschritte, überholte bald seinen Bruder. Und ging 2006, da war er 18, nach Ägypten, um zu studieren.

In Kairo lernte er Maryam kennen. Bahur hatte gerade erst sein Studium am Arabic Oud House summa cum laude abgeschlossen, schon war er selber Dozent. Unter seinen Schülern: eine Frau mit langen schwarzen Locken und dunklen, wachen Augen. «Die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Und eine talentierte Musikerin.» Maryam. Sie verliebten sich.

Dann begannen die Proteste in der arabischen Welt. Auch Bahur wollte seine Meinung äussern. Mit Künstlern, Musikern und Dichtern zog er vor die syrische Botschaft in Kairo und skandierte Parolen. «Ich habe nie zu Gewalt aufgerufen», sagt er, «ich bin ein friedliebender Mensch. Alles was ich will, ist Freiheit und Friede». Seine Rede wurde vom Fernsehen aufgezeichnet, er ist gut erkennbar. Bald interessierte sich das syrische Regime für die Namen der Aktivisten, Bahur kam auf eine Liste. Und die Schikanen begannen.

Die Flucht

Bahur bekam Morddrohungen, so erzählt er es, Maryam wurde fast gekidnappt. Sie verliessen ihre Wohnung nicht mehr. Ein letztes Mal fuhr Bahur am 3. März 2011 nach Syrien, spielte ein Konzert in Aleppo. Er sang seine Lieder, sie handeln von der Freiheit, die jedem Menschen zusteht, von Gerechtigkeit und Frieden. Zehn Tage später brach der syrische Bürgerkrieg aus.

Auch in Kairo spitzte sich die Lage zu. Freunde warnten sie, seltsame Gestalten folgten ihnen. Bald würde Bahurs Pass ablaufen, von der syrischen Botschaft würde er sicher keinen neuen erhalten. Sie entschieden sich, zu fliehen. Maryams Schwester lebt seit einigen Jahren in Solothurn, also fiel die Wahl auf die Schweiz.

Mit einem Besuchervisum reisten sie ein, ganz legal. Dann stellten sie ein Asylgesuch, gaben alles ab, die Reisepässe, Dokumente, alle Beweise. Sie erzählten ihre Geschichte, einen ganzen Tag lang, bis es dunkel wurde. Maryam ist 18 Jahre älter als Bahur. Die Frau, die sie befragte, hob die Augenbraue. Ob das normal sei, fragte sie. «Ist es ein Verbrechen?», fragte Maryam.

Normalerweise gilt die Unschuldsvermutung. Nicht im Asylwesen. Hier steht jeder zunächst einmal unter dem Vedacht, die Behörden täuschen zu wollen. «Vielleicht war das unser Fehler», sagt Bahur: «Dass wir ehrlich waren.»

Das Zimmer

Nach dem Empfangszentrum Kreuzlingen ging es für das Paar ins Erstaufnahmezentrum Foral in Chur. Graubünden erhält 2,7 Prozent der in der Schweiz Asyl Suchenden zugewiesen. Der Kanton unterhält die Transitzentren Rheinkrone in Cazis, Löwenberg in Schluein und Landhaus in Davos. Im Ausreisezentrum Flüeli werden jene untergebracht, die zur Ausreise aufgefordert sind. Und im Minimalzentrum Waldau jene, die sich renitent verhalten.

Bahur und Maryam landeten in Cazis. Als sie das Zimmer betraten, begann Maryam zu weinen. Ob es denn kein grösseres gebe für sie, sie würden dafür auch auf einen Teil der Unterstützungsgelder verzichten. Sie sollten froh sein, bekamen sie zu hören: Das Zimmer ist normalerweise für drei gedacht.

Die Tür lässt sich nicht ganz öffnen, sie schlägt an einen Kühlschrank, den sich das Paar hat kaufen können, dahinter ist ein Lavabo, daneben ein Schrank. Auf dem Boden zwei Decken als Teppiche, ein Tischchen, zwei Stühle, das Sofa, das sie zum Schlafen ausklappen. Auf dem Tisch ein Computer, Bahur nutzt ihn für seine Internetrecherchen. Er ist mittlerweile Asylexperte und wird von anderen im Haus um Rat gefragt. Oder er komponiert seine Musik. Stolz zeigt er die Partitur eines grossen Orchesterwerkes. Er denkt daran, dereinst einen Dokumentarfilm über die Asylsuchenden zu drehen, die Musik, die er hier komponiert hat, soll den Soundtrack bilden.

Maryam und Bahur leben hier seit zweieinhalb Jahren, ein paar Monate waren sie noch in Schluein, dort seien die Zustände schlimmer. In ebenso grossen Zimmern würden sechsköpfige Familien untergebracht. Die beiden arbeiteten in einer Burgerbude, manchmal zwölf Stunden am Tag, bezahlt wurden höchstens neun. Erhalten sie einen Lohn, müssen sie 700 Franken Miete für das Zimmer zahlen, die Krankenkasse für beide; zehn Prozent gehen an das Bundesamt für Migration. Hinzu kommen die Fahrkosten. Gerade erst hat Maryam einen Job angeboten bekommen, drei Wochen putzen in einem Heim, guter Stundenlohn. Am Ende wären ihr nicht mal 200 Franken mehr geblieben, als wenn sie nichts tun und sich mit den monatlich 600 Franken durchschlagen, die die beiden vom Staat erhalten.

Aber nichts tun macht das Warten nicht einfacher.

Die Hoffnung

Bahur knüpfte Kontakte zu Musikern, zum Komponisten Robert Grossmann aus Fürstenau zum Beispiel. Oder zu Jean-Marc Briand aus dem Wallis. Er spielte Konzerte hie und da, ist Teil von Briands Bandprojekt Seema. «Wenn er spielt» sagt Maryam, «ist er der glücklichste Mensch der Welt.» Aber jedes Konzert ist einmal zu Ende. Das Publikum geht nach Hause. Und für Bahur und Maryam heisst es wieder: Warten.

Briand schrieb einen Brief für seinen Freund. Über verschiedene Kanäle fand er den Weg bis auf den Tisch von Bundesrätin Simonetta Sommaruga: «Ich gerate mit einem Anliegen an Sie als Musikerin, Vorsteherin des EJPD und Mensch.» Maryam und Bahur seien in einer verzweifelten Situation. Die Zustände in Cazis unhaltbar. Ob es möglich wäre, das Verfahren rascher abzuwickeln. Bahur und Maryam hofften.

Wovon träumt Ihr? «Ich möchte an der Zürcher Hochschule der Künste studieren», sagt Bahur. Maryam kann seit einer schiefgelaufenen Operation nicht mehr Oud spielen, sie möchte jetzt einfach eine Arbeit, eine Wohnung, ein Leben. Wenn es sein muss, auch anderswo: «Auch ein Nein wäre in Ordnung. Hauptsache, eine Entscheidung.»

Dann kam die Antwort, unterschrieben von Mario Gattiker, dem Direktor des Bundesamtes für Migration. Er könne nur wenig sagen, aber so viel: Das Gesuch werde prioritär behandelt. Prioritär! Jetzt, so dachten Bahur und Maryam, konnte es sich nur noch um Tage, höchstens um Wochen handeln. Sie feierten.

Das Datum auf dem Brief des Direktors: 10. Februar 2014. Bahur sitzt auf dem Stuhl im Zimmer 209, Transitzentrum Rheinkrone, Cazis, und wartet.

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