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«In der Strafanstalt neben Sträflingen aufgewachsen»

Senioren sind wandelnde Geschichtsbücher. Sie können viel erzählen. Jeweils dienstags lassen ältere Personen die «Südostschweiz»-Leser an ihrem Leben teilhaben. Heute: Silvia Rickli-Gauer (81) aus Rapperswil.

Südostschweiz
17.06.14 - 02:00 Uhr

«Ich bin am Fusse der Kreuzberge, in der Strafanstalt Saxerriet in Salez, aufgewachsen. Mein Vater war dort landwirtschaftlicher Werkmeister, und wir wohnten gemeinsam mit Aufseherfamilien in einem Haus.

Die Strafanstalt führte neben dem Landwirtschaftsbetrieb auch eine eigene Metzgerei, Schmiede und Gärtnerei.

Jeden Morgen um sieben Uhr kamen die Sträflinge in Zweierkolonnen und begannen, in den ihnen zugeteilten Bereichen zu arbeiten. Ich bin mit ihnen aufgewachsen und wir pflegten einen unbeschwerten Umgang miteinander.

Man hatte keine Angst, da es ja weder Zeitungen noch Fernsehen gab, die einem hätten Angst machen können. Nur eines hat uns der Vater strengstens verboten: Wir durften nicht alleine mit einem Sträfling in eine Scheune gehen. Manche Sträflinge kamen immer wieder, meist wegen kleiner Delikte.

Nach den damals üblichen sieben Primarschuljahren kam ich in die Sekundarschule in Frümsen. Das dritte Jahr musste ich bei der Mutter hart erkämpfen, denn sie wollte mich langsam aus dem Haus haben, da ich als Teenager ‘ä chli ä Frächi’ geworden war.

Traumberuf war zu teuer

Die 20 Franken, welche ich mir danach monatlich im Welschlandjahr verdiente, sparte ich mir für ein Occasionsvelo auf. Das benötigte ich später für meine Lehre, denn ohne Velo kam man nirgendwo hin.

Mein Traumberuf wäre Handarbeitslehrerin gewesen, doch die Ausbildung kostete zu viel für meine Eltern, ebenso die für eine kaufmännische Lehre. Deshalb fing ich in der Nähe von Rheineck eine Lehre bei einem Posthalter an. Eine begleitende Schule zu besuchen, war nicht möglich. Ich wurde nur zum Arbeiten benutzt.

Ständig kanzelte er mich vor der Kundschaft herunter und gab mir das Gefühl, ich sei nichts wert. Das war entwürdigend, und irgendwann glaubt man, was einem ständig gesagt wird. Es passierten so viele schlimme Sachen, dass ich eines Tages meine Sachen packte und nach Hause reiste.

Nachdem ich auf der Postdirektion St. Gallen dann doch noch eine richtige Postlehre machen konnte, übernahm ich im Postkreis 9 viele Ablösungen. Zu diesem Kreis gehörte auch Rapperswil, und dort lernte ich meinen Mann Alfons kennen.

Bis zu unserer Hochzeit 1958 mussten wir einige Hürden nehmen, da er katholisch und ich reformiert war. Vorerst musste ich als gute Schwiegertochter auch noch meine Aussteuer zusammenbringen, wobei mich das Geld für die gestickten Leintücher noch lange reute.

Die Gängster übertölpelt

Obwohl das Erste von drei Kindern erst ein Jahr nach der Hochzeit zur Welt kam, wurde mir umgehend nach der Heirat gekündigt. Die Männer fürchteten um ihre Arbeitsstellen und wollten nicht, dass verheiratete Frauen arbeiteten.

So nahm ich halt verschiedene Arbeiten innerhalb der Verwandtschaft an, bis Alfons 1970 die Posthalterstelle in Jona übernehmen konnte. Von da an war ich seine zweite Hand und übernahm Aushilfen, wenn unsere Angestellte ausfiel. Die Ausbildung der Lehrtöchter lag mir aufgrund meiner eigenen schlechten Erfahrungen besonders am Herzen.

Ende der Achtzigerjahre überfielen drei Gangster unsere Filiale, und es freut mich noch heute, wie ich sie übertölpeln konnte. Wir hatten soeben den Briefkasten geleert, und auf dem Tisch lagen neben vielen Banknotenbündeln auch eine Menge Briefe. Während ein Räuber über den Schalter sprang und eine Angestellte drangsalierte, warf ich geistesgegenwärtig den Briefhaufen über das viele Geld. Prompt wurden die 150 000 Franken Bargeld übersehen.

Einer hielt mir die Pistole an den Kopf und zwang mich, die Tresore zu öffnen. Beim Zweiten stellte ich mich dumm und sagte, ich wisse den Code nicht. Was ihnen blieb, waren 30 000 Franken, mehr nicht.

Auch wenn Postangestellte nicht mein Traumberuf war, so war es doch der Weg, den ich gehen musste. Ich lernte mich wehren, mutig sein, hinstehen und mit Leuten umgehen. Zur Pensionierung erhielten Alfons und ich ein Bild mit vielen Fotos ehemaliger Angestellter und Lehrlinge, das freute uns sehr.

Ich gehe regelmässig ins Aquafit und bin gerne in der Natur, sie ist meine Medizin. Auf einer Kräuterwanderung im Wallis konnte ich viel dazu lernen.»

Aufgezeichnet von Gaby Kistler

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