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Der Schliemann des Disentiser Stucks

Über 17 Jahre hinweg hat der Wissenschafter Walter Studer im stillgelegten Hallenbad des Klosters Disentis an 12 000 Stuckfragmenten aus dem 8. Jahrhundert gepuzzelt. Jetzt geht er in Pension. Das Bad ist leergeräumt. Eine Ära endet.

Südostschweiz
02.04.13 - 02:00 Uhr

Von Jano Felice Pajarola (Text und Bilder)

Disentis. – Seine Kontinente sind verschwunden. Abfotografiert, systematisch in metallene Archivschubladen verräumt, angeschrieben, abtransportiert, eingebunkert. Ist sein Blick zufrieden? Wehmütig? Schwer zu sagen. Da steht er nun in diesem Raum, der zum ersten Mal seit 17 Jahren leer ist, auf dem Kopf eine warme Fellmütze, um den Hals einen dicken Schal, und lächelt. Licht flutet durch die Fenster, und er, Walter Studer, sagt: «Es war so, als suche man im Stockfinstern eine schwarze Katze. Von der man aber wenigstens wusste, dass sie da war.»

Die Katze ist inzwischen, etwas salopp formuliert, aus dem Sack. 2005 hat eine Ausstellung im Rätischen Museum für Furore gesorgt, «Byzanz in Disentis», 2011 hat Studer einen ersten Teil seiner Erkenntnisse als Buch publiziert: die Enträtselung des Disentiser Stucks, ein Fundkomplex von 12 000 Kalkmörtelfragmenten aus einer Vorgängerkirche des Klosters. Eine kunsthistorische Sensation.

Zwei Mönche aus Byzanz

1250 Jahre zurück. Es herrscht Bilderverbot im Ostteil des Byzantinischen Reichs; wer sich nicht fügen mag, wird ins Exil in den Westen getrieben. Auch zwei Mönche, versierte Künstler, ziehen nach Rom. Und bekommen einen Auftrag: Der Franke Pippin III., erster Karolingerkönig und Verbündeter des Papstes, stiftet für das noch junge Benediktinerkloster Disentis eine neue Martinskirche – deren Innenraum soll künstlerisch ausgestaltet werden. Die byzantinischen Mönche reisen in die Cadi. Und schaffen dort um 760 ein Monumentalkunstwerk. Eine überlebensgrosse Darstellung des apokalyptischen Strafgerichts. Eine mindestens lebensgrosse Koimesis, eine Darstellung des Marientodes. Insgesamt gegen 150 Figuren. Alle aus Stuck, eine plastisch unterlegte, dreidimensionale Malerei.

Um 800 wird die Kirche erneut umgebaut, das Werk der Mönche zerstört, als Streugut zum Niveauausgleich im neuen Gotteshaus verwendet. 1907 und 1981 kommt der Stuck bei Ausgrabungen teilweise ans Tageslicht. Es sind die 12 000 Fragmente.

«Der Fund war verschrien als kruder Germanenschrott.» Aus Studers Stimme tönt etwas Spott, er streift an zusammengeklappten Ateliertischen vorbei durch den leeren Raum. Es ist das ehemalige Hallenbad der Disentiser Klosterschule, trockengelegt Mitte der Neunzigerjahre, statt der dringenden Sanierung kam er, der Wissenschafter, und mit ihm der Stuck, hervorgeholt aus dem Dornröschenschlaf im Kulturgüterschutzraum des Klosters. Wo einst Gymnasiasten schwimmen lernten, wurden auf Dutzenden Tischen die Fragmente ausgelegt. Das Puzzle konnte beginnen.

Eine Arbeit ohne Erfolgsgarantie

«Hans Rudolf Sennhauser, der die Ausgrabungen in den Achtzigerjahren geleitet hatte, suchte immer eine geeignete Person für diese Arbeit. Und ich, Mitarbeiter an der ETH in Zürich, dachte damals schon: Dieser Fund ist sensationell – und er ist nicht das, was alle denken.» Studer, Historiker und Kunsthistoriker, ist überzeugt: Bis anhin hat nur die Methode gefehlt, um dem Schutt seinen Sinn zu entlocken. Ein Missverständnis, ihn als Relikt eines misslungenen regionalen Kunstversuchs zu betrachten, wie es noch viele tun im Jahr 1995, als Studer den Job übernimmt. Eine Sisyphusaufgabe? «Natürlich war ich manchmal der Verzweiflung nahe. Aber oft», Studer schmunzelt, «habe ich mich auch gefühlt wie ein kleiner Schliemann.»

Also puzzelt Studer, er puzzelt Jahr um Jahr, unterstützt vom Archäologischen Dienst Graubünden (ADG), der ihn in einem Teilzeitpensum engagiert und ihm eine versierte Mitarbeiterin zur Seite stellt, Iris Derungs. Studer weiss: Es gibt keine Garantie auf Erfolg. Die 12 000 Fragmente sind nur ein Bruchteil des Originals, das Motiv ist unbekannt, und das Puzzle hat drei statt bloss zwei Dimensionen. Studer trägt Indizien zusammen, aus Ikonografie, Theologie und anderen Disziplinen; er und Derungs vergleichen Teile, suchen Anschlüsse, experimentieren mit Modellen, mit Rekonstruktionen in Originalgrösse. «Es ging nicht nur darum, Formen zu sehen, sondern auch Farben. In kleinsten Resten.»

Die Strategie geht auf. Erfolgserlebnisse stellen sich ein, entscheidende Teile lassen sich identifizieren, sogenannte Kontinente definieren, Motivgruppen, denen man Fragmente zuordnen kann. Lichtschimmer fallen in das Dunkel. Die schwarze Katze wird greifbar – das Werk der beiden Mönche aus Byzanz. Studer postuliert: Disentis besitzt nicht einen Pfusch lokaler Dilettanten, sondern die weltweit älteste fassbare Gestaltung des Jüngsten Gerichts und des Marientods. Ein kunsthistorisches Erbe ersten Ranges.

Studers Wissen wird gesichert

«Die Frage war: Wie sichern wir Walter Studers Wissen, bevor er nun dieses Jahr in Pension geht?» Kantonsarchäologe Thomas Reitmaier ist auch nach Disentis gereist an diesem letzten Dienstag im März, ADG-Mitarbeitende haben die fragmentbedeckten Tische im Hallenbad fotografisch festgehalten, Studer wird die Aufnahmen später katalogisieren, die Auslegeordnung soll rekonstruierbar bleiben. Die Leute vom ADG haben das Bad leergeräumt, die Fragmente in Schubladen gelegt, in den Kulturgüterschutzraum des Klosters gebracht. «Die Klimabedingungen waren hier nicht ideal für 1200-jährigen Stuck», sagt Reitmaier. «Für uns war das ein Damoklesschwert. Es war uns wichtig, aufzuräumen. Auch psychologisch.»

Die Arbeit geht ihm nicht aus

Der Stuck, da ist sich Reitmaier sicher, wird früher oder später wieder hervorgeholt und weiter erforscht. Noch längst sind nicht alle Fragen geklärt. Die bedeutendsten Fragmente werden zudem bald nach Zürich ins Landesmuseum reisen, wo ab September die Schau «Karl der Grosse und die Schweiz» zu sehen ist. Karls Vater war Pippin III., laut Studers Theorie der Stifter der Disentiser Stuckkirche. Ein Kreis schliesst sich.

Und Studer? Er steht neben Reitmaier im leeren Bad, mit immer noch schwer zu deutendem Blick. Draussen auf der Wiese springt eine schwarze Katze Mäusen nach. Studer lächelt. Er hat noch viel zu tun.

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