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«Den Lawinenwinter anno 1935 vergesse ich nie»

Konrad Flütsch aus St. Antönien erinnert sich noch ganz genau an den 4. Februar 1935. An diesem Tag verlor er bei einem Lawinenunglück einen Teil seiner Familie – seither liest er täglich die «Südostschweiz».

Südostschweiz
10.12.11 - 01:00 Uhr

Von Pierina Hassler

St. Antönien. – Der Besuch beim 84-jährigen Konrad Flütsch ist ein Erlebnis. Der Mann ist ein wandelndes Geschichtsbuch. Er erzählt von früher, weiss jedes Datum, jedes Detail. Doch Flütsch lebt nicht in der Vergangenheit. Er weiss, was auf der Welt passiert. Es trifft ihn zum Beispiel, dass in Kabul vor Kurzem wieder 30 Menschen getötet wurden. Und zur Bundesratswahl vom kommenden Mittwoch hat er eine ganz klare Meinung: «Eveline Widmer-Schlumpf wird im Bundesrat bleiben. Sie ist eine gute Bundesrätin. » Und das sagt ein Mann, der von 1979 bis 1985 als SVP-Politiker im Grossen Rat sass.

Eine traurige Nachricht

Wenn Flütsch die tragische Geschichte vom Lawinenwinter 1934/35, genauer gesagt vom 4. Februar 1935, erzählt, merkt man, dass ihn dieses Datum bis heute beschäftigt. In urchigem Prättigauer Dialekt erzählt er: «Am 4. Februar 1935 am Füüfi sind dr Ätti und i im Hof für äm Gadä gstandä und duo hets uf eimaal uf där andärä Talsiitä fescht grusschät und gchrachät. Dr Ätti rüöft, jez, chund d Chüönilaubänä, as git äs Unglück.» Minuten später geht in St. Antönien das elektrische Licht aus. Alles wird dunkel, und niemand im Dorf weiss, was die Lawine angerichtet hat.

Erst am nächsten Morgen wird das Ausmass der Zerstörung sichtbar. Familie Flütsch kann von ihrem Haus aus das Haus eines Onkels sehen. Es ist fast ganz zerstört. Was noch übrig ist, klebt schräg im Hang. «Mein Vater ging mit den Ski zu den Verwandten», erzählt Flütsch. «Und am Abend brachte er dann die traurige Nachricht heim, dass mein Onkel, meine Tante und ihre zwei kleinen Kinder von den Schneemassen erdrückt worden sind.» Die Lawine hatte insgesamt sieben Menschen in den Tod gerissen.

«Die ganze Lawinengeschichte stand ein paar Tage später in der damaligen ‘Neuen Bündner Zeitung’», sagt Flütsch. «Die Bilder der Begräbnisse haben mir grossen Eindruck gemacht, und ich habe das Unglück nie mehr vergessen.» Flütsch wollte unbedingt lesen, was die Reporter über das Lawinenunglück geschrieben hatten. Damals ging er in die erste Primarklasse. «Wir hatten erst Ende Oktober mit der Schule angefangen, ich konnte noch nicht gut lesen», sagt er. Aber das Thema faszinierte den kleinen Konrad dermassen, dass er seine Grossmutter bat, ihm das Lesen doch ganz schnell beizubringen, schneller, als er das in der Schule gelernt hätte.

Mittlerweile liest Flütsch die «Südostschweiz» seit 76 Jahren. Er sei eben ein treuer Leser, sagt er. Nur die «ewigen» Namenswechsel der Tageszeitung haben ihm nicht gepasst. «Zuerst die ‘Neue Bündner Zeitung’, dann die ‘Bündner Zeitung’ und jetzt die ‘Südostschweiz’», sagt er wenig begeistert. Aber ihm passen auch die «ewigen» Namenswechsel von St. Antönien Tourismus nicht. Gar nicht lustig findet er den jetzigen Slogan «St. Antönien, hinter dem Mond links».

Ein Buch mit Flurnamen

Der 84-Jährige ist ein begeisterter Jäger. «Altershalber jage ich aber nur noch Murmeltiere.» Aus dem Fett der Tiere fertigt Flütsch Murmeltieröl an. Dieses altbewährte Hausmittel entspannt beim Einmassieren Muskeln und Gelenke. «Ich bin auch ein angefressener Fotograf und Filmer.» Früher habe er viel fotografiert, jetzt sei es weniger geworden. Früher war Flütsch auch ein engagierter Bürger, er war Präsident des Jägervereins Madrisa, des Schützenvereins und der Theatergesellschaft. Er war auch Gemeindekassier und bis 1988 auch noch Gemeindepräsident von St. Antönien. Vor elf Jahren starb seine Frau. «Kinder haben wir leider keine.» In Flütschs Leben ist etwas Ruhe eingekehrt – ganz ohne Ämter und Aufgaben will er aber nicht sein. Zurzeit arbeitet er an einem Buch über die Flurnamen von St. Antönien. Vielleicht liest er dann über sich selbst in der «Südostschweiz».

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