Das Massaker von Disentis
Die Geschichte des Disentiser Klosterbrands von 1799 liest sich wie das Drehbuch zu einem blutigen Hollywood-Streifen, mit Vertreibung der Franzosen und dem darauf folgenden Rachefeldzug inklusive Flammeninferno.
Die Geschichte des Disentiser Klosterbrands von 1799 liest sich wie das Drehbuch zu einem blutigen Hollywood-Streifen, mit Vertreibung der Franzosen und dem darauf folgenden Rachefeldzug inklusive Flammeninferno.
Sabrina Bundi
Der Aufstand begann etwa um vier Uhr. Mit Gewehren, Gabeln und Morgensternen bewaffnet stürmten die Medelser und Disentiser Männer mit vereinten Kräften das von französischen Wachen besetzte Rathaus. Auch das Kloster nahmen sie ein. Die Mönche flohen in den Wald. Die Männer kannten kein Pardon und nahmen 60 bis 80 Franzosen gefangen, den Rest hatten sie getötet. «Die grausamsten waren die Medelser, welche raubend und trinkend Gräueltaten übten», schreibt Müller. Am Morgen des 2. Mai kehrten die geflohenen Mönche wieder in das Kloster zurück – in den Gängen die Leichen der Gefallenen. Auch die 80 Gefangenen sollten sterben, ginge es nach dem Rachedurst der Medelser, deren Tal von den Franzosen schamlos ausgeplündert worden war. Die Geistlichen beschworen die Bauern auf Knien und mit erhobenen Händen, den Gefangenen zu verzeihen. Sie sollten nach Trun zu weiteren Landsmännern gebracht werden. Bis nach Trun kamen sie allerdings nie.
Diese Sätze stammen aus Kapitel vier «Die Vertreibung der Franzosen» von Iso Müllers Text «Die Abtei Disentis und der Volksaufstand von 1799». Der Geistliche, Theologe und Historiker Müller (1901–1987) beschreibt darin nicht nur der blutige Überfall der Bauern, sondern auch, was passierte, als die französischen Gefangenen, zwei an zwei aneinander gebunden, auf der alten Landstrasse in Richtung Trun marschierten.
«Die Strassen waren rot vor Blut»
Bereits im Disentiser Quartier Carcarola nutzten die brutalen Medelser die Gelegenheit, die gefesselten Franzosen zu erschiessen oder sie zu Tode zu prügeln. Den Leichen zog man die Uniformen aus und verstaute sie gegen den Willen der Mönche in die Klosterapothek. Ein folgenschwerer Fehler. Die Körper verscharrte man nahe der Todesstätte.
Die Disentiser glaubten, die Franzosen seien auf dem Rückzug. Am Mittag des 4. Mai hiess es allerdings, das französische Heer dringe mit Schwert und Feuer gegen Disentis vor.
Sofort verliess das Volk das Dorf und suchte im Wald und in nahen Höhlen nach Unterschlupf. Auch die Mönche entschlossen sich zu einer raschen Flucht und liessen ihre Kostbarkeiten in den Archiven und Bibliotheken. Am 5. Mai umstellten die Franzosen Disentis, damit nicht weitere Menschen fliehen können. General Ménard forderte von der Gemeinde eine Brandschatzung von 10 000 Franken in blankem Geld innerhalb von 24 Stunden. Bis zum Sonnenuntergang hatten sie alle Männer, die sie noch finden konnten, in ein Zimmer des Klosters gesperrt. Dort fanden sie die Uniformen ihrer getöteten Landsbrüder. Am nächsten Tag brannten sie aus Rache das ganze Kloster nieder. Parallel steckten sie in den Disentiser Quartieren Acletta, Chischliun, Raveras und Clavaniev alles in Brand.
Erst nach zwei Wochen verliessen die Franzosen Disentis wieder, da sich die Kriegslage zu ihren Ungunsten geändert hatte. Vom Rheintal her drangen die österreichischen Truppen vor. Die Mönche, die in ihr Kloster zurückkehrten, fanden nur noch einen Schutthaufen vor. In der Apotheke des Klosters, wo die Uniformen verwahrt waren, hatten die Franzosen Pulver angehäuft – die Explosion war so wuchtig, dass selbst die starken Barockgewölbe zusammenbrachen. Nur mit Not hatte der Konventuale Universalgelehrte Pader Placidus a Spescha (1752–1833) einige Kostbarkeiten aus der Abtei retten können. Als er später in einer Schrift niederschrieb, was alles ein Opfer der Flammen geworden sei, übertreibt er allerdings ein bisschen: «Man postulierte einfach für Disentis, was man in ähnlicher Weise in St. Gallen besass und dachte nicht daran, dass die Stainachabtei im Frühmittelalter literarisch eine weit bedeutendere Rolle gespielt hatte als Disentis», schreibt Müller.
Wer trägt die Schuld?
Nach dem Massaker in Disentis beschuldigte der französische Resident Florent Guiot in einem Brief die Disentiser Mönche als Urheber des Aufstandes, denn Priester und Mönche seien gegen die Französische Revolution, also auch die Ursache dieser Taten. Er schloss auch aus der Tatsache, dass die Uniformen im Kloster gefunden wurden, auf eine Initiative der Abtei.
Am 10. Mai befasste sich das helvetische Directorium in Aarau mit dem Brief Guiots. Das Directorium verordnete, dass alle Mönche und Geistlichen aus Graubünden entfernt werden sollten. Um die Anstifter der Erhebung zu strafen, sollen die Commissäre das Kloster Disentis aufheben und dessen Mönche nach Zürich bringen, wo sie in Haft bleiben würden.
Auch hier war es unter anderem Pater Placidus a Spescha, der später den Konvent von seiner angeblichen Schuld freischrieb. Er hat dargestellt, wer die wahren Aufständigen waren. Auch ein Empfehlungsschreiben des Kleinen Rates von Graubünden aus dem Jahr 1813, unterschrieben vom Präsidenten Ritter Georg von Toggenburg und dem Kanzleidirektor Cl. Wredow, führt wörtlich aus: «Es verdient wohl hier auch in Erinnerung gebracht zu werden, dass die Geistlichen in Disentis weit entfernt zu dem Aufstand der Landleute gegen die französischen Truppen die allermindeste Veranlassung gegeben zu haben, vielmehr bei dieser Gelegenheit die rühmlichsten Beweise einer Menschenliebe an den Tag gelegt haben.»
Die Behauptung also, die noch lange in der französischen Kriegsliteratur gemacht wurde, die Mönche seien am Massaker schuld, «ist nichts anderes als eine schwarze Legende», klärt auch Iso Müller in seinem Text auf.
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