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«Am Samstag kamen die Särge»

Heute vor 50 Jahren ging die verhängnisvolle Lawine auf der Lenzerheide nieder. Fritz Heer hat die Katastrophe überlebt. Kurz danach schrieb er einen Brief an seine Gotte. Darin fasst der Schüler das Geschehene in Worte.

Südostschweiz
10.02.11 - 01:00 Uhr
Ereignisse

Von Fritz Heer, Glarus, 15. Februar 1961

Liebe Gotte

Du hast sicher auch vom schrecklichen Lawinenunglück auf der Lenzerheide erfahren und weisst, dass ich auch dabei war. Ich will dir nun erzählen, wie es mir ergangen ist.

Am Freitagmorgen zogen wir mit Skis und Fellen ausgerüstet los. Merkwürdigerweise blieben acht Schüler in der Hütte. Als wir das Ziel unseres Aufstieges erreicht hatten, zogen wir die Felle ab. Wir trieben allerlei Allotria, neckten einander, kurz, wir hatten es sehr lustig.

Dann teilten wir uns in zwei Gruppen ein. Ich war bei der ersten Gruppe, die von Hans Jenny geführt wurde. Wir fuhren frohgemut und nichts ahnend in den Unglückshang hinein. Da stürzte ein Mädchen unserer Gruppe und konnte sich nicht mehr selber erheben.

Wir stritten uns, wer ihm helfen sollte. Schliesslich ging Hans Jenny. Unterdessen fuhr die zweite Gruppe unter Führung von Fräulein Brandenberger in den Hang hinein. Aber sie schlossen nicht, wie in manchen Zeitungen stand, zu uns auf, sondern blieben oben am Hang stehen.

Ich sah, wie die Schüler hinunterwirbelten

Plötzlich gab es einen dumpfen Knall, ich schaute hangaufwärts und sah, wie die Mitschüler hinunterwirbelten. Ich hatte aber doch noch die Geistesgegenwart, aus der Gefahrenzone herauszufahren. Als das Schneebrett niedergegangen war, rief Ernst Nägeli um Hilfe. Frl. Brandenberger ging zu ihm, um ihm zu helfen. Sobald ich mich etwas vom Schrecken erholt hatte, fuhr ich, so schnell ich konnte, in die Hütte hinunter. Dort meldete ich es. Du kannst dir vorstellen, wie sie erschraken.

Dann fuhr ich zur nächsten Wirtschaft hinunter, um den Rettungsdienst zu alarmieren. Die Leute in der Wirtschaft sassen gerade beim Mittagessen, sie erschraken sehr.

Die Wirtstochter telephonierte nach allen Skiliftstationen. Als sie telephoniert hatte, verliess ich die Wirtschaft, um mich zur Hütte zu begeben.

Auf dem Rückweg stiessen noch zwei Kameraden zu mir. Wir rannten zur Mittelstation vom Skilift hinauf. Wir wollten mit ihm hinauf, um die Verschütteten auszugraben, aber man liess uns nicht hinauf. Also gingen wir in die Wirtschaft (nicht die gleiche wie vorher) und telephonierten von dort den Herren Tschappu, Preisig und dem Rektor.

Auch der Mutter telephonierte ich. Ich weiss, dass ich dir auch hätte telephonieren sollen, aber wir waren so aufgeregt und durcheinander, dass es mir gar nicht in den Sinn kam. Im Laufe des Nachmittages kam Herr Zogg von Glarus zu uns. Ich musste ihm den Weg zur Hütte zeigen.

Ich blieb dann auch in der Hütte. Am Abend mussten wir die Rucksäcke der Toten und Vermissten packen. Zum Nachtessen gab es Tee und «Apfelbeggeli». Die Beggeli hatte Daniel Äbli gestiftet. Nach dem Nachtessen mussten wir ins Bett und versuchen zu schlafen. Ich schlief vor lauter Erschöpfung noch ziemlich rasch ein.

Am anderen Morgen standen wir um ca. 7 Uhr auf. Wir packten unsere Rucksäcke fertig ein, assen etwas und fuhren dann auf die Lenzerheide hinunter.

Zuerst verstauten wir das Gepäck und die Skis im wartenden Extrapostauto. Dann gingen wir ins Verkehrsbureau. Dort warteten wir bis zur Abfahrt des Autos. Auf der Heimreise waren wir immer für uns allein. Es konnte uns niemand belästigen, denn die Wagen wurden abgeschlossen.

In Glarus angekommen, ging es erst recht los. Am Samstag um 1/2 5 Uhr kamen die Särge der Opfer in Glarus an. Dann fand in der Kirche eine kurze Andacht statt. Am Sonntag hatte der Rest unserer Klasse eine Zusammenkunft, um über den Kranz und das Arrangement, das wir den Angehörigen gaben, zu sprechen.

Am Montag gingen wir zu allen Eltern, um ihnen zu kondolieren. Zugleich brachten wir ihnen die Ruck-säcke und die Sachen, die sie auf sich hatten.

Die neun Gräber waren ein Blumenmeer

Am Dienstag war dann die Beerdigung. Sie ging bis um 1/2 1 Uhr. Am Nachmittag gingen wir auf den Friedhof Ennenda. Auf dem Grab von Hans Jenny hatte es viele Blumen und Kränze.

Am Mittwoch mussten wir wieder in die Schule gehen. Frl. Brandenberger gibt erst die nächste Woche wieder Unterricht. Am Mittwochnachmittag waren wir auf dem Friedhof Glarus. Die neun Gräber waren ein Blumenmeer.

Das ganze Unglück war schrecklich für die Eltern und für uns, ja überhaupt für alle. Übrigens geht es den drei Verletzten gut. Einer ist schon wieder gesund und munter, eines konnte heute Mittwoch aus dem Spital Chur heim und der dritte ist noch im Spital in Chur.

Übrigens, ich hätte es beinahe vergessen, wie geht es euch? Hoffentlich gut! Ich habe mich von diesem Schrecken so ziemlich erholt. So etwas möchte ich nie mehr erleben. Skifahren werde ich dieses Jahr ziemlich sicher nicht mehr, ich habe für eine Weile genug davon. Jetzt will ich aber schliessen. Also

Viele herzliche Grüsse von Fritz Heer, Glarus
Auch die Mutter lässt euch herzlich grüssen.

Fritz Heer war der erste Schüler, der nach dem Lawinenniedergang abgestiegen ist und Hilfe geholt hat. Später heiratete er Rosmarie Heer-Ineichen. Die Ehe hielt 23 Jahre, bis er im Jahr 2002 verstarb. Nach seinem Tod hat seine Witwe einen Brief erhalten, den er 1961 wenige Tage nach dem Unglück an seine Gotte geschrieben hat.

Unglück war immer präsent

von Rosmarie Heer-Ineichen, Mollis

Aus dem Schreiben von Rosmarie Heer-Ineichen an die «Südostschweiz» wird deutlich, wie stark das Unglück ihren Mann Fritz Heer geprägt hat.«Das Unglück hat uns die ganze Zeit begleitet und war mehr oder weniger immer präsent. Vor einigen Jahren, bereits nach seinem Tod, habe ich einen Brief erhalten, den er nach dem Unglück seiner Gotte geschrieben hat. Wenn Sie wollen, können Sie diesen verwenden.Ganz besonders in Erinnerung war für meinen Mann immer, als sie, wie Kurt Brunner erwähnt hat, die Eltern seiner verstorbenen Kameraden zu Hause besuchen mussten. Seither ertrug er den Geschmack von Nelken und Chrysanthemen in geschlossenen Räumen nicht mehr. Besonders war der erste Schultag mit den zehn leeren Stühlen im Klassenzimmer. Und im Sommer 1961 mussten alle nach Lenzerheide, um einen Gedenkstein einzuweihen. Das war das letzte Mal, dass er in der Lenzerheide war.Wenn im Fernseher ein Film gezeigt wurde mit einem Lawinenabgang, sass er wie erstarrt da, und ich musste jeweils das Gerät abstellen.Er war immer ein guter Skifahrer, hat auch etliche J+S-Leiterkurse besucht und viele Male Schullager als Skilehrer begleitet. Das Unglück hat er jedoch nie vergessen.Leider kann er sich nicht mehr selber dazu äussern. Ich bin aber überzeugt, dass er einverstanden wäre, dass Sie seinen Brief erhalten.»

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