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«Ich fuhr nie des Geldes wegen Ski»

Die Flumserbergerin Marie-Theres Nadig ist kürzlich nach 50 Jahren im Skisport pensioniert worden. Zeit, um mit der Olympiasiegerin und langjährigen Trainerin zurück und auch nach vorne zu blicken.

Südostschweiz
14.07.18 - 04:30 Uhr
Stars & Sternli
Marie-Theres Nadig erzählt, wie es früher war und wie es heute ist.
Marie-Theres Nadig erzählt, wie es früher war und wie es heute ist.
RETO VONESCHEN

von Markus Roth und Reto Voneschen

Seit Anfang Mai ist Marie-Theres Nadig offiziell Pensionärin. Zuletzt war die Flumserbergerin Trainerin beim regionalen Skiverband Sarganserland-Walensee (SSW), davor in diversen Kadern bis hin zur Frauen-Cheftrainerin beim nationalen Schweizer Skiverband Swiss-Ski und zum Einstieg beim Liechtensteiner Skiverband (LSV). In ihrer Aktivzeit gewann sie als 17-Jährige zweimal Gold bei Olympia 1972 und 1980 Bronze. Dazu wurde sie zweimal Weltmeisterin. «Maite», wie Marie-Theres Nadig überall genannt wird, kommt bestens gelaunt zum Interview. Unkompliziert, geradeheraus kommen die Antworten. Es wird eine amüsante Stunde.

Marie-Theres Nadig, was ist das für ein Gefühl, das Loslassen der Verantwortung?

Marie-Theres Nadig: Ich überlasse es ja nicht dem Zufall, der Nachfolger ist da und ich habe seine Planung gesehen. Vieles geht ähnlich weiter, wie ich es gemacht habe. Für mich ist es einfach so: Seit ich 14 bin, bin ich im Skisport tätig. Ich habe mich seither jeden Tag damit befasst, wie man schneller werden kann. Zuerst für mich, dann für die Athleten. Mit der Zeit wird das auch zu einer Bürde. Man steigert sich da hinein, ist mit Herzblut dabei, damit sich jeder Athlet verbessern kann. Als Trainer kommt die Frage hinzu: Wie erkläre ich das Ganze dem Sportler, damit er das richtig auffasst und etwas daraus ziehen kann. Und wenn du zehn Athleten hast, dann hast du zehn verschiedene Persönlichkeiten. Sich in jeden hineinzuversetzen, ist schwierig. Ich wollte immer alles herauskitzeln aus einem Athleten. Das ist mir nicht immer gelungen, in vielen Fällen aber schon (diverse Weltcupfahrerinnen und -fahrer gingen durch Nadigs Schule – die Red.). Das ist auch eine Genugtuung. Aber irgendwann wirst du abgestumpft und bringst nicht mehr die Energie dafür auf. Du wirst auch älter, du siehst auch, wo du an Grenzen stösst.

Die Arbeit mit jungen Leuten dürfte auch anspruchsvoll sein.

Du musst Rücksicht auf viele Sachen nehmen. Als Regionalverbandstrainer bist du der Letzte im Glied. Vieles ist vorgegeben. Man kann so keinen roten Faden reinbringen, du bist immer in der Zwickmühle. Wenn du dann merkst, das ist nicht mehr das Richtige für dich, befriedigt es dich auch nicht mehr. Deshalb kann ich jetzt so richtig runterfahren und bin gar nicht enttäuscht, dass ich jetzt pensioniert bin. Sondern sehr froh darüber.

Sie waren also 50 Jahre im Skisport tätig?

Richtig. Und zwar von zuunterst bis zuoberst. Bei Swiss-Ski wollte ich 2004 schon künden und zurück zum Regionalverband gehen. Dann wollten sie unbedingt eine Schweizer Lösung. Auf das hin habe ich, mit einigen Auflagen, zugesagt. Leider hatten wir keinen Erfolg und einer musste dann gehen.

Es ist halt meistens der Trainer.

Nicht immer. Wenn ein Mann an meiner Stelle gewesen wäre, wäre es vielleicht anders verlaufen. Ich war aber auch nicht traurig damals, unverhofft kam die Entlassung nicht. Als Cheftrainer bist du auf einem Schleudersitz. Nur wie es am Schluss lief, da hatte ich schon das Gefühl, das hätte auch anders verlaufen können.

Von Respektlosigkeit war die Rede.

Die einen würden sagen, es brauchte ein Bauernopfer.

Die Nachwuchsförderung sei da- mals zu schwach gewesen, hiess es.

Nein. Verschiedene Umstände führten zur Misere. Dies war aber nicht mein Verschulden. Ich hatte darauf hingewiesen, keiner hat es jedoch erhört. Ich wollte das aber nicht an die grosse Glocke hängen, sondern intern regeln. Danach wurde es aber so ausgelegt, dass es mein Fehler gewesen wäre.

Also keine Gedanken, an die Medien zu gelangen?

Nein, aber ich bekam Anrufe von Zeitungen. Ich hätte auch eine Pressekonferenz machen sollen mit Swiss-Ski. Aber wenn ich dort meine Version erzählt hätte, wäre zu viel kaputtgegangen. Auf diese Stufe wollte ich mich nicht herunterlassen. Ich weiss, was ich kann, und das, was ich nicht kann, hatte ich damals ausgegliedert. In meinem Segment war einfach der Erfolg nicht da. Das wäre aber erklärbar gewesen.

Ihr Ruf litt aber darunter.

Klar. Dem damaligen Verbandspräsidenten Gian Gilli sagte ich, du hast nun ein Loch in der Kasse und mein Ruf ist dahin. Denn mein Vertrag lief weiter. Bereut habe ich es nie. Ich wollte Konstanz ins Team bringen. Ich sagte schon zu Beginn, dass ich dafür mindestens drei Jahre brauche.

Welche Stufe war denn die spannendste als Trainerin?

Eigentlich überall. Auch bei einem kleinen Verband wie Liechtenstein. Vieles hängt von der Planung ab. Erfolgsdruck gibt es auf jeder Stufe, jede hat aber auch ihre interessanten Seiten. Ganz zuoberst bist du mehr Reiseleiter, Seelendoktor. Vieles ist auf kurzfristigen Erfolg ausgerichtet. Einen guten Trainer zeichnet –nach meiner Meinung – auch aus, dass er längerfristig denkt. Ich bin der Überzeugung, dass der Athlet ein Fundament braucht. Es gibt viele Sportler, die kometenhaft aufsteigen. Wenn dann die Basis nicht vorhanden ist, fallen sie gleich wieder zurück. Es braucht eine gewisse Stabilität, um den nächsten Schritt zu machen.

Sprechen Sie da auch aus eigener Erfahrung? Sie wurden sehr jung Olympiasiegerin.

Ja. Ich musste viel Lehrgeld zahlen. Ich wurde ins Rampenlicht gehievt und hätte jemanden gebraucht, der mir dabei hilft. Kam noch hinzu, dass ich die Skimarke wechseln musste.

Was gab es damals als Prämie?

Das war kein Vergleich zu heute. Wir waren offiziell ja auch keine Profis und durften darum nicht mehr als 100 000 Franken verdienen. Alles mehr ging an den Skiverband. Mir wars egal, ich fuhr nicht Ski des Geldes wegen.

Etwas anderes als Trainer wollten Sie gar nicht machen nach der Aktivkarriere?

Das Sportgeschäft wurde ja schon eröffnet, als ich noch aktiv war. Dann kam die Rennschule dazu. Ich habe relativ rasch gemerkt, dass ich keine Verkäuferin bin. Ich war lieber in der Werkstatt. Mein Bruder Thomas und seine Frau Edith führen das Geschäft aber hervorragend. So hat es sich ergeben, dass ich die Trainerausbildung gemacht habe.

Eine Lehre haben Sie nie abgeschlossen?

Nein. Ich ging zweieinhalb Jahre in die Sekundarschule, dann trat ich aus, um Ski zu fahren. Mit meinem Vater habe ich vereinbart, dass ich es zwei Jahre versuche. Ich sagte ihm, dass ich eine Lehre mache, wenns nicht klappt. Der Plan war einmal, bei seinem Architekturbüro eine Hochbauzeichnerlehre zu beginnen. Während der Schulzeit hatten die Lehrer nicht immer Freude an mir. «Warst du wieder Ski fahren», hiess es dann, als ich beispielsweise die Französisch-Vokabeln nicht wusste. Zwei Jahre später war ich aber Olympiasiegerin. Zur Ehrrettung: Der betreffende Lehrer hat mir später ein Brieflein geschrieben und sich entschuldigt.

«Anfang Dezember begann jeweils die Weltcupsaison. Am Sonntag davor hatte ich noch ein Fussballspiel.»

Trainer ist ja mittlerweile ein anerkannter Job.

Genau. Aber als ich Mitte der Achtzigerjahre als Trainerin begann, hiess es, eine Frau könne das nicht. Sie könne nicht Stangen tragen, nicht Kurse ausstecken, weil ihr das Distanzgefühl fehle. Oder dass eine Frau nicht draussen stehen könne, wenn es schneit. Weltweit war ich die erste Frau als Trainerin. Und auch die erste Cheftrainerin. Kam noch dazu, dass ich bei den Männern tätig war. Dort wurde ich von der Trainergilde aber schneller akzeptiert als später bei den Frauen. Dort herrscht ein ganz anderes Verhältnis zwischen Trainer und Athleten.

Wenn Sie die Athleten von damals und jetzt vergleichen, gibt es da Unterschiede?

Die Gesellschaft hat sich verändert. Als Beispiel: Früher gingen wir Flumserberger morgens um 6.30 Uhr auf den normalen Bus, um zur Schule zu fahren. Eine Stunde warteten wir dann, bis der Unterricht begann. Abends um 17.30 Uhr fuhr der Bus nach Hause. Heute gibt es spezielle Schulbusse. Konditionell hatten wir andere Voraussetzungen, da wir viel mehr draussen unterwegs waren. Wir spielten nicht auf dem Handy oder Computer. Heute brauchts viel mehr Zeit, um den gleichen Stand zu erreichen. Kinder können heute fast nicht mehr Kinder sein, weil sie viel mehr geführt werden. Wir mussten mehr Eigeninitiative zeigen. Heute kommt auch der Druck, schneller vorwärtszugehen. Und du hast viel mehr Möglichkeiten. Es braucht so als Trainer viel mehr, um Athleten zu motivieren, gerade wenns nicht läuft. Kommt hinzu, dass die Schweiz keine Spitzensport-Gesellschaft ist. Bei vielen gehts nur noch um den Wohlstand. Viele sind auch genügsam. Ein gutes Resultat reicht.

Das war früher anders?

Definitiv. Das Ziel war, dass es dir einmal besser geht. Du musstest Gas geben, um in die Kader zu kommen. Heute musst du nicht Ski fahren, damit es dir besser geht. Wir mussten früher auch das Liftticket bezahlen.

Ein Ausblick in die Zukunft: Man kann sich irgendwie nicht vorstellen, dass Sie nichts mehr machen.

Momentan mach ich aber wirklich nichts. Ich habe alles abgegeben und besuche alle meine Kolleginnen. Und dann kommt der Winter, dann fahr ich auch wieder Ski. Vielleicht hat der SSW ja mal einen Notfall, dann springe ich sicher ein. Aber einen Plan vorlegen, das muss keiner.

Der Weg zum SSW-Cheftrainer Andi Nadig ist kurz – Ihr Neffe wohnt ja im gleichen Haus.

(lacht) Meine Telefonnummer muss er nicht löschen. Der erste Springer ist aber Thomas Nadig, ich bin erst der zweite. Doch jetzt sollen sich die Neuen erst mal eingewöhnen.

«Das Ziel früher war, dass es dir einmal besser geht. Du musstest Gas geben, um in die Kader zu kommen.»

Was ist mit den Medaillen und Pokalen? Einst war zu lesen, dass Sie diese verschenkt hätten.

Ich habe einst alles dem Sportmuseum Basel vermacht, als Andi das Haus übernahm und ich in die kleine Wohnung zügelte. Dort hatte ich keinen Platz mehr für die Sammlung. Die Gemeinde Flums fragte ich aber zuerst an. Der damalige Gemeindepräsident hatte auch Interesse für einen Teil der Sammlung. Danach ist aber nichts passiert, die grosse Kristallkugel habe ich dann auch zurückerhalten. Die ist jetzt bei der Frau meines Bruders. Der grosse Rest ist in Basel. Das Museum hat aber finanzielle Probleme und will die Sachen wieder zurückgeben.

Müssen wir einen Aufruf starten?

Bei mir hats jedenfalls keinen Platz. Vielleicht hat auch der SSW Interesse. Ich hänge nicht dran. Die Erfolge hatte ich, die muss ich nicht belegen. Einige Medaillen hab ich auch verschenkt.

Eine Sache noch: Sie haben einst Fussball gespielt, beim FC Zürich. Wie kams denn dazu?

Ja, ganz vergiftet. Zuhinterst auf der Tannenbodenalp hatte es eine einzige flache Wiese. Dort spielten wir jedes Wochenende Fussball. Alle älter und ich als einziges Mädchen. Nach dem Olympiasieg 1972 wurde ein Bild von mir erstellt mit einem Fussball. Danach rief mich der damalige FCZ-Präsident Edi Nägeli an. Er überzeugte mich, obwohl ich wenig Ahnung von Fussballregeln hatte, beim FCZ in der NLA mitzuspielen. Mit meinem goldenen Mini, den ich nach meinem 18. Geburtstag erhielt, fuhr ich dann dreimal die Woche nach Zürich ins Training. Thomas war dann später auch unser Trainer. Anderthalb Stunden dauerte ein Weg mindestens, erst ab Rapperswil hatte es ja eine Autobahn. Auf dem Rückweg nahm ich oft auch eine Spielerin aus Winterthur mit. Meist war ich erst um Mitternacht zu Hause. Aber ich wollte das unbedingt. Erst spielte ich auf dem linken Flügel, dann im Mittelfeld. Später wechselte ich zum FC Bad Ragaz in die 1. Liga, dort war ich auch Spielertrainerin.

Unvorstellbar, dass beispielsweise Wendy Holdener nebenbei noch NLA-Fussball spielen würde.

Anfang Dezember begann jeweils die Weltcupsaison. Am Sonntag davor hatte ich noch ein Fussballspiel. Aber es war wohl besser, dass das nicht alle wussten.«Ich bin gar nicht enttäuscht, dass ich jetzt pensioniert bin, sondern sehr froh darüber.»

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