Die erstaunliche Geschichte eines untalentierten Spätzünders
Nach dem überraschenden Gewinn von EM-Bronze vor einem Jahr liefert Lukas Britschgi auch an der Eiskunstlauf-EM in Kaunas ab. Als Zweiter nach dem Kurzprogramm befindet er sich erneut auf Podestkurs.
Nach dem überraschenden Gewinn von EM-Bronze vor einem Jahr liefert Lukas Britschgi auch an der Eiskunstlauf-EM in Kaunas ab. Als Zweiter nach dem Kurzprogramm befindet er sich erneut auf Podestkurs.
Als Britschgi im Januar 2019 in Minsk erstmals an einer EM teilnimmt, ist er schon beinahe 21 Jahre alt. Als 31. des Kurzprogramms verpasst er die Kür. Zwei Monate später belegt er bei seiner WM-Premiere Platz 34. Hätte damals jemand gesagt, dass er vier Jahre später EM-Bronze gewinnt, der Schaffhauser hätte ihn für verrückt erklärt.
Britschgi sagt von sich, dass er kein Talent sei. Erst mit 15 Jahren beherrschte er den Doppel-Axel, was definitiv spät ist. Einfacher fielen ihm die Dreifach-Sprünge. Auch körperlich war er ein Spätentwickler. Zudem hatte er erst spät Ambitionen. «Die Konkurrenz in der Schweiz ist beschränkt, die internationale Orientierung war wichtig», sagt Britschgi im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Er sah damals bloss das Potenzial, mal an einem Junioren-GP dabei zu sein, was vieles aussagt.
Mehr Konstanz und mehr Qualität
Später setzte sich Britschgi das Ziel Olympia-Teilnahme. Diesen Traum erfüllte er sich 2022 in Peking, wo er den Wettkampf als 23. beendete. An die letztjährige EM in Espoo reiste er mit dem Vorhaben, eine Top-Ten-Klassierung zu schaffen. Selbst nach dem 5. Zwischenrang nach dem Kurzprogramm traute er sich keine Medaille zu. «Ich wollte den Platz halten, schon das wäre ein grosser Erfolg gewesen», blickt Britschgi zurück. «Deshalb ging ich mental sehr locker an die Sache heran.»
Mit dem Medaillengewinn hat sich für ihn «vieles geändert». Unter anderem sind die eigenen Erwartungen gestiegen, «damit musste ich lernen umzugehen». Dass ihm das sehr gut gelungen ist, zeigen die Resultate in dieser Saison. Mitte November gewann er in Warschau erstmals einen Wettkampf im Rahmen der Challenger Serie. Eine Woche später gelang ihm in Osaka als Dritter zum ersten Mal in einem Grand Prix der Sprung aufs Podest.
Nach den grössten Fortschritten gefragt, nennt Britschgi einerseits die Konstanz. Andererseits habe er die Qualität der Sprünge sowie Pirouetten gesteigert und sich auch im künstlerischen Bereich verbessert. Nicht umsonst hob er in dieser Saison die persönliche Bestleistung um 7,09 auf 264,43 Punkte an.
Seinen Plan, das Sprungrepertoire um den Vierfach-Salchow zu erweitern, konnte er allerdings nicht umsetzen. Zwar stand er diese Schwierigkeit schon ein paar Mal im Training, weil er jedoch im November Probleme mit der Patellasehne bekam und diese Schmerzen beim Salchow zur Folge hatten, wurde nichts aus dem Einbau in die Kür. Er hofft nun, diesen Sprung nächste Saison zeigen zu können.
Wegen Mutter zum Eiskunstlauf
Britschgi begann im Alter von sechs Jahren mit Eiskunstlauf. Seine Mutter war J&S-Leiterin und nahm ihn jeweils mit aufs Eis. Obwohl es kein «Testosteron-Sport» ist, fand er Gefallen daran. Seit vier Jahren befindet sich seine Trainingsbasis in Oberstdorf, gecoacht wird der Schweizer von Michael Huth, dem langjährigen Trainer von Carolina Kostner, der Weltmeisterin von 2012 sowie fünffachen Europameisterin.
Der Sport passt insofern perfekt zu Britschgi, als er es liebt, Leute zu unterhalten. «Ich versuche, progressiv und nicht konservativ unterwegs zu sein, etwas Neues, Modernes hineinzubringen», sagt Britschgi, der sich als offener und redseliger Mensch bezeichnet. In der Kür entschied er sich für eine «afrikanische Richtung». Er sei jemand, der gerne mal etwas ausprobiere und riskiere.
Seit vier Jahren finanziert sich Britschgi selber. Mittlerweile kann er sogar etwas Geld zur Seite legen. «Für meine Leidenschaft bezahlt zu werden, ist der Jackpot», sagt der letztjährige WM-Achte. Nebenbei absolviert er ein Fernstudium in Betriebswirtschaftslehre. Er befindet sich im fünften von acht Semestern. «Ich brauche diesen Ausgleich», so Britschgi.
Seine Karriere will er nach Möglichkeit zumindest bis nach den Olympischen Spielen 2026 in Mailand fortsetzen. Danach schaut er weiter, aber selbstredend reizen ihn die Europameisterschaften 2027, finden diese doch in Lausanne statt. «Solange ich Freude habe und fit bin, mache ich weiter», sagt Britschgi. Das ist jedoch Zukunftsmusik, sein ganzer Fokus gilt nun der Kür vom Freitagabend. Es winkt die nächste EM-Medaille für den Spätzünder.