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«Der Mensch entwickelt sich nicht wie ein iPhone»

Das Schweizer Fed-Cup-Team tritt am Wochenende in Texas ersatzgeschwächt zum Aufstiegs-Playoff gegen die USA an. Captain und TV-Experte Heinz Günthardt erklärt, warum er dennoch zuversichtlich ist.

Agentur
sda
17.04.19 - 10:00 Uhr
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Vor seiner Abreise nach San Antonio sprach der 60-jährige Zürcher, ehemaliger Spitzenprofi und unter anderem Coach von Steffi Graf, am Rande des WTA-Turniers in Lugano mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA über die Situation im Fed-Cup-Team, die Umwälzungen im Tenniszirkus und die Aussichten von Roger Federer auf Sand.

Heinz Günthardt, im Aufgebot für den Fed Cup in den USA fehlen Belinda Bencic und Stefanie Vögele. Sind Sie darüber enttäuscht?

«Es ist eine äusserst unglückliche Konstellation. Das Datum ist schlecht, es wird mitten in der Sandplatz-Saison auf Hartbelag und in einer anderen Zeitzone gespielt. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir diese (letzte) Woche in Lugano auf Sand spielen, und es ist meiner Ansicht nach sehr wichtig, dass die Schweizerinnen dieses Turnier mit ihrer Teilnahme unterstützen. Für einen Fed Cup in Texas, der auf einem anderen Belag und zu anderen Uhrzeiten stattfindet, ist das natürlich die völlig falsche Vorbereitung. Man kann nicht überall einen guten Job machen. Ich bin deshalb sehr froh, dass Viki (Golubic) und Timea (Bacsinszky) das auf sich nehmen und wir so dennoch ein kompetitives Team haben und andere halt diesmal aussetzen.»

Sie haben also Verständnis für die Absagen?

«Absolut. Was wichtig ist: Es ist zu spüren, dass alle Teil dieses Teams sein wollen und versuchen, den Fed Cup eines Tages zu gewinnen. Das ist dieses Jahr nicht möglich. Zusätzlich wird darüber diskutiert, dass die Weltgruppe auf 16 Teams aufgestockt werden könnte und die Schweiz dann bereits als Aufsteiger feststehen würde. Summa summarum ist diese Begegnung deshalb vielleicht nicht so bedeutend. Deshalb ist die Lösung richtig, so wie wir sie jetzt haben. Die erste Partie in diesem Jahr war die wichtigere.»

Wurde versucht, das Heimrecht abzutauschen wie 2013 in der gleichen Situation mit Australien?

«Nein. Die USTA (der amerikanische Tennisverband) macht so etwas nicht. Das passt nicht zu deren Image und Selbstverständnis.»

Wie schätzen Sie die Chancen ein, den Fed Cup einmal zu gewinnen?

«Wir haben enorm viele talentierte Spielerinnen. Wenn sie gesund sind und entsprechend mit Selbstvertrauen zum Fed Cup kommen, können wir gegen alle Teams bestehen. Das ist keine Frage, wir sind eine hart zu knackende Nuss. Aber: Wir sind keine grosse Nation. Wenn wir ein, zwei Verletzungen haben, haben wir praktisch keine Möglichkeit, diese auf dem gleichen Niveau zu ersetzen.»

Die möglichen Veränderungen im Fed Cup haben Sie angesprochen, im Davis Cup wurden diese bereits umgesetzt. Dazu gibt es mit Laver Cup und ATP Cup auch völlig neue Turniere. Finden Sie diese Entwicklung gut?

«Wir sind derzeit in einer Zwischenphase. Es ist ganz sicher gut fürs Tennis, einen Team-Event zu haben. Braucht es drei oder vier davon? Wahrscheinlich eher nicht. Es sollen ja alles riesige Highlights werden, aber man kann nur eine bestimmte Anzahl Highlights haben. Ich habe das Gefühl, da ist man im Tennis schon an der oberen Grenze angelangt. Man kann nicht auf allen Hochzeiten gleichzeitig tanzen. Das schwierige im Tennis ist, dass du verschiedene Organisationen hast, die sich nicht immer finden. Es kommt mir manchmal vor wie im Boxen, wo es drei oder mehr verschiedene Weltmeister in der gleichen Gewichtsklasse gibt. Das ist sicher nicht optimal.»

Im Tennis warten alle seit Jahren auf die längst erwartete Wachablösung, aber Federer, Nadal und Djokovic dominieren immer noch. Sind sie so gut oder die Jungen zu schlecht?

«Es ist immer eine Kombination von beidem. Ich kann auch nur spekulieren, aber es ist sicher so, dass Djokovic, Nadal und Federer Ausnahmetalente sind. Es ist offensichtlich so, dass sich der Mensch nicht so weiterentwickelt wie ein iPhone. Es ist nicht einfach jede Generation besser. Vielleicht hat man früher einfach mehr Sport getrieben, fast ununterbrochen. Ich hatte früher mit dem Velo einen relativ weiten Weg in die Schule, war fast immer zu spät dran und musste immer Vollgas geben. Heute werden die Kinder mit dem Auto oder Schulbus hingebracht. Vielleicht gehen dadurch einige Talente verloren. Ich könnte noch viele Theorien aufstellen, so genau weiss das keiner.»

Ist es gut fürs Tennis, dass die Grossen noch da sind oder verhindern sie gerade, dass sich neue Stars entwickeln können?

«Kurzfristig ist es natürlich gut. Der Bekanntheitsgrad der drei im Welttennis ist auf dem absolut höchsten Niveau. Da gibt es vielleicht noch Ronaldo oder Messi, aber ich weiss nicht, ob es noch andere Sportler gibt, die weltweit bekannter sind. Das heisst, die Sportart ist in den Schlagzeilen, das hat zu sehr viel Wachstum geführt.»

Umso grösser ist die Gefahr eines Absturzes, wenn die drei fast gleichzeitig aufhören.

«Das ist eine gute Frage. Ich hoffe, dass wir das nicht erleben, dass alle drei fast gleichzeitig verloren gehen.»

Bei Federer scheint ein Rücktritt in naher Zukunft kein Thema, er spielt sogar erstmals seit drei Jahren wieder auf Sand. Was trauen Sie ihm zu?

«Das wird tatsächlich sehr interessant. Es hängt auch von den Verhältnissen ab. Sand kann sehr unterschiedlich sein. Wenn es nieselt in Paris, kann der Platz sehr langsam sein. Es kann dann Löcher geben, der Ball springt nicht mehr 100 Prozent perfekt ab und es wird viel schwieriger, den Ball früh zu schlagen. Dann müsste Federer weiter hinten spielen, dann sehe ich es nicht so. Wenn es aber trocken und heiss bleibt, kann der Centre Court in Roland Garros wie ein Hartplatz mit ein bisschen Puder drauf sein. Dann kann es sein, dass er sein Spiel kaum umstellen muss und absolut Chancen hat. In Paris gibt es einfach immer noch einen, der über allen anderen steht, und der heisst Rafael Nadal. Wenn er fit ist und sein bestes Tennis spielt, dann ist er auf Sand unschlagbar.»

Welchem von den Jungen trauen Sie den Durchbruch am ehesten zu?

(überlegt) «Schwierig zu sagen. Es gibt schon einige. Der Kanadier Auger-Aliassime (18-jährig, Halbfinalist in Miami) ist richtig gut. Auch (Alexander) Zverev ist richtig gut, aber er braucht zu viel Energie, weil er zu verkrampft ist. Aber das kann sich auch schnell legen. Es müssen einfach mal ein paar Sachen zusammenkommen. Die grossen drei sind unheimlich gut darin, sich im richtigen Moment gut zu verkaufen. Das Interessante an dieser Sportart ist ja, dass am Ende niemand genau weiss, warum jetzt der oder dieser gewonnen hat. Es ist so komplex.»

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