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Grossbritannien kapselt sich weiter ab

Der Westminster hat diese Woche Verschärfungen im Handel mit der EU beschlossen. Bei der Einfuhr vieler Tierprodukte und pflanzlicher Artikel werden zukünftig umfangreiche Dokumente erforderlich sein.

Südostschweiz
01.02.24 - 18:25 Uhr
Schweiz & Welt
Der britische Premier Rishi Sunak wird zeitnah wohl keinem Abkommen zu einheitlichen Lebensmittelstandards mit der EU zustimmen.
Der britische Premier Rishi Sunak wird zeitnah wohl keinem Abkommen zu einheitlichen Lebensmittelstandards mit der EU zustimmen.
Bild Andy Rain / Keystone

von Sascha Zastiral

Stehen die Menschen in Grossbritannien wegen des Brexits bald wieder vor leeren Supermarktregalen? Neu wäre das Szenario nicht: Als im Sommer des Jahres 2021 wegen der Covidpandemie und wegen des EU-Austritts 100 000 LKW-Fahrer fehlten, kam es zu schweren Engpässen. Landesweit blieben in vielen Geschäften ganze Reihen von Regalen leer. An vielen Tankstellen wurde das Benzin knapp. Es herrschte Krisenstimmung. Zwar gab es damals auch auf dem europäischen Festland Probleme im Einzelhandel. Die neu geschaffenen Hürden beim grenzüberschreitenden Handel, eine Folge des Brexits, haben die Lage in Grossbritannien damals aber zweifellos verschärft. Entsprechend gross war die Häme aus dem Ausland.

«Das System ist nicht für Lebensmittel mit kurzer Haltbarkeit ausgelegt.»

Karin Goodburn, Lebensmittelverband Chilled Food Association

Dabei vollzieht sich die weitaus grösste Änderung beim Handel mit der EU erst diese Woche – und dies mehr als drei Jahre, nachdem das Land mit dem Ende der Brexit-Übergangsfrist den europäischen Binnenmarkt und die Zollunion verlassen hat. Seit Mittwoch müssen Exporteure in der EU erstmals ihren Gütersendungen nach Grossbritannien Gesundheitszeugnisse beilegen. Betroffen sind alle Tierprodukte und Pflanzenartikel mittleren oder hohen Risikos. Zur Hochrisiko-kategorie gehören lebende Tiere, Setzlinge, einige Samenarten und Knollen. Zu den Waren mittleren Risikos zählen unter anderem Schnittblumen, Fleisch, Frischmilch, Eier und einige Fisch-arten. Erst vergangene Woche beschloss das Umwelt- und Landwirtschaftsministerium in London überraschend, zahlreiche Fruchtsorten und Gemüsegruppen ebenfalls zur mittleren Risikokategorie hinzuzufügen. Die verschärften Regeln betreffen somit einen beträchtlichen Teil der Lebensmittelimporte aus der EU.

Bürokratiewahnsinn wird teuer

Exporteure in der EU müssen sich seit dieser Woche von Veterinären oder Inspektoren für Pflanzengesundheit in siebenseitigen Formularen bestätigen lassen, dass von ihrer Ware keine Gefahr ausgeht. Dabei ist für jeden einzelnen Empfänger in Grossbritannien ein gesondertes Dokument erforderlich. Die damit verbundenen Kosten dürften die Erzeuger und Exporteure schon bald auf den Preis ihrer Ware schlagen. Die britische Regierung schätzt, dass die neuen Regeln 330 Millionen Pfund im Jahr kosten werden. Industrievertreter gehen von mehr als einer halben Milliarde Pfund an Mehrkosten aus. Und diese dürften wohl bald bei den britischen Verbrauchern landen.

Die EU verlangt von britischen Exporteuren bereits seit Anfang des Jahres 2021 Gesundheitszeugnisse. Die Regierung in London hat die Einführung der neuen Regeln im Gegensatz jedoch fünf Mal verschoben. Und das aus gutem Grund: Die neuen Regeln dürften zwangsläufig zu Verzögerungen führen. In vielen EU-Staaten herrscht ein Tierärztemangel. Cristina Tinelli, Direktorin für EU-Beziehungen und internationale Angelegenheiten beim italienischen Landwirtschaftsverband Confagricolturan sagte der «Financial Times»: «Die offiziellen Tierärzte haben schon jetzt viel zu tun, und wir haben so viele Kontrollen.» Am Ende werde es schon gelingen, die neuen Vorgaben einzuhalten, fügte sie hinzu. «Aber es wird nicht einfach sein.»

Richtig heikel werden könnte es ab Ende April. Ab dann sollen auf britischer Seite die Lebensmittellieferungen auch an der Grenze inspiziert werden. Das könnte die Lieferketten im Einzelhandel und in der Lebensmittelindustrie vollends durcheinanderwerfen. Denn Grossbritannien importiert rund die Hälfte der Lebensmittel, die es verbraucht, aus dem Ausland.

Besonders Kleine gebeutelt

Karin Goodburn, Direktorin des britischen Lebensmittelverbandes Chilled Food Association, erklärt auf Anfrage: «Das System ist nicht für schnelllebige Lebensmittel mit kurzer Haltbarkeit ausgelegt und muss neu gestaltet werden, um den Handel zu erleichtern.» Das neue Prozedere werde zu «beträchtlichen zusätzlichen Kosten» führen. Es drohen Verzögerungen. Verderbliche Ware könnte an den Grenzen schlecht werden.

Die grossen Supermarktketten und Lebensmittelimporteure dürften es noch vergleichsweise einfach haben, die zusätzlichen Auflagen ohne grössere Schwierigkeiten zu erfüllen, und die meisten ihrer Produkte ins Land zu bekommen. Probleme bekommen dürften hingegen die vielen kleineren Feinkostgeschäfte des Landes. Ihnen könne es kaum gelingen, weiterhin sämtliche ihrer Produkte ins Land zu bekommen, die sie bislang in teilweise relativ geringen Mengen importiert haben.

John Farrand, Geschäftsführer des Verbandes Guild of Fine Food, der rund 12 000 dieser Geschäfte vertritt, sagte dem «Guardian»: «Ich mache mir Sorgen, dass wir am Ende nur noch Massenprodukte kaufen und verkaufen werden. Werden wir das Ende kleinerer, interessanterer Produkte erleben, die letztendlich besser für den Planeten sind?» Nick Carlucci, Verkaufsdirektor beim italienischen Lebensmittelimporteur Tenuta Marmorelle, sagt, er habe von mehreren Lieferanten in Italien gehört, die sich aufgrund der zusätzlichen Bürokratie gegen den Export nach Grossbritannien entschieden hätten. Der Aufwand lohne sich nicht, Grossbritannien sei als Markt nicht gross genug. «Das ist schade, denn der Endverbraucher wird diese Spezialprodukte letztendlich verlieren.»

In Brüssel stehen die Türen offen

Abhilfe schaffen könnte ein Abkommen zwischen Brüssel und London, bei dem sich beide Seiten darauf verständigen, ihre Lebensmittelsicherheitsvorschriften anzugleichen. Und tatsächlich hat Pedro Serrano, der EU-Botschafter in London, erst kürzlich angedeutet, dass man in Brüssel einem solchen Abkommen gegenüber aufgeschlossen wäre. Besonders wahrscheinlich ist es jedoch nicht, dass sich Premierminister Rishi Sunak in absehbarer Zeit dazu bereit erklären wird. Sunak dürfte es vor der Wahl im Januar 2025 kaum wagen, die Brexit-Unterstützter des Landes mit einer erneuten Annäherung an die EU gegen sich aufzubringen.

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