Nur Reiche können sich die Freiheit leisten
Bereits vor Beginn des Gazakriegs im Oktober florierte das Geschäft mit illegalen Einreisen nach Ägypten. Nun aber sind die Preise so hoch wie nie.
Bereits vor Beginn des Gazakriegs im Oktober florierte das Geschäft mit illegalen Einreisen nach Ägypten. Nun aber sind die Preise so hoch wie nie.
Das Netzwerk aus Reisevermittlern und sogenannten Fixern in Ägypten und Gaza besteht seit Jahren. Sie versprechen eine beschleunigte Ausreise aus dem abgeriegelten Küstengebiet und verlangen dafür von Palästinensern pro Person derzeit zwischen 4500 und 10 000 US-Dollar, wie das Investigativnetzwerk Organized Crime and Corruption Reporting Project (OCCRP) herausfand. Der Preis hing zuvor unter anderem davon ab, wie häufig der Grenzübergang Rafah geöffnet wurde. Seit Kriegsbeginn ist er deutlich gestiegen. Je grösser die Verzweiflung in Gaza, desto besser für das Geschäft.
«Habt ihr Leute in Gaza, die nach Ägypten ausreisen wollen? Wie viele?», schreibt einer der Anbieter auf Nachfrage Anfang Januar. Wenige Tage später kommt sein Angebot. Die «Koordinierung» koste 8000 US-Dollar für einen Erwachsenen und 1500 US-Dollar für ein Kind. Die Anmeldung laufe über ein Büro im Osten Kairos. Die Ausreise aus Gaza erfolge dann «innerhalb von 72 Stunden». Wenn die Sicherheitsbehörden keine Einwände hätten, könne die Grenze mit einer Wahrscheinlichkeit von 100 Prozent überquert werden. Es sind Summen, die die wenigsten der 2,2 Millionen Einwohner aufbringen können. Ein ganzer Haushalt in Gaza kam vor dem Krieg im Schnitt auf ein Jahreseinkommen von 1400 US-Dollar.
«Es ist ein hoher Preis, aber wir haben keine andere Chance, um dem Tod zu entkommen.»
Im ägyptischen Kairo erzählen einige, sie hätten für die Ausreise den gesamten Familienschmuck verkauft. Andere haben verwandte oder befreundete Unterstützer im Ausland. Eine in Ägypten lebende Palästinenserin sammelte in einer Onlinekampagne umgerechnet bisher etwa 28 000 Euro, weil sie ihre drei Schwestern aus Gaza nach Ägypten holen will.
Vertriebene sind verzweifelt
Rafah, der einzige nicht von Israel kontrollierte Zugang zu Gaza im Nordosten Ägyptens, war schon vor Kriegsbeginn ein Nadelöhr. Nie liess sich vorhersehen, wann er öffnen oder schliessen würde. Für eine Ausreise war ein formeller Antrag beim Innenministerium nötig, das seit 2007 von der islamistischen Hamas kontrolliert wird. Diese Genehmigung konnte Monate dauern. Eine Ausreise über Eres nach Israel und weiter ins Westjordanland oder nach Jordanien war nur in sehr wenigen Ausnahmen möglich. Einen grösseren Hafen oder auch einen Flughafen gibt es im Gazastreifen angesichts von Israels Blockade nicht.
In den ersten Wochen des Krieges begannen mehrere Tausende Ausländer und Palästinenser mit Zweitpass, den Gazastreifen zu verlassen. Auch ein kleiner Teil der vielen Verletzten konnten zudem zur ärztlichen Behandlung raus. Hunderttausende sind in dem Gebiet weiter zwischen Trümmern oder in Notunterkünften gefangen. 1,7 Millionen wurden innerhalb Gazas vertrieben. Weil der Küstenstreifen abgeriegelt ist, strömen sie vom Norden in den Süden oder zurück. «Mein Vater ist ein Geschäftsmann und hat gute Beziehungen zu ägyptischen Behörden, aber sie konnten uns nicht helfen», erzählt eine junge Frau. Grauenvolle Nächte habe die Familie in der Stadt Gaza durchstehen müssen. «Wir dachten, wir würden niemals überleben», sagt die 29-Jährige. Der Vater entschied schliesslich, 7000 Dollar für jeden in der achtköpfigen Familie zu zahlen. Das viele Geld bedeutet aber noch längst nicht, dass es mit der Ausreise auch klappt. Ein in Gaza lebender Mann sagt, er habe vor etwa vier Wochen 8000 US-Dollar bezahlt – und warte immer noch. «Es ist ein hoher Preis, aber wir haben keine andere Chance, um dem Tod zu entkommen», so der 35-Jährige.
Reisebüro mit Militärkontakten
Immer wieder gab es Anschuldigungen, ägyptische Behörden seien direkt in die Geschäfte verwickelt. Der Leiter des Staatsinformationsdiensts, Diaa Raschwan, wies diese zuletzt als «falsch» und «beruhend auf unglaubwürdigen und ungeprüften Quellen» zurück. Versuche, solche «illegalen Gebühren» zu verlangen, sollten Palästinenser den ägyptischen Sicherheitsleuten in Rafah sofort melden.
Unter den Anbietern taucht ein Name aber immer wieder auf: die ägyptische Firma Hala Consulting and Tourism. Seit 2019 bietet sie einen VIP-Service für Reisen über Rafah an. Im Internet wirbt die Firma mit Illustrationen von Kleinbussen, Wartehallen oder einem Mann im Anzug mit Rollkoffer an einem Flughafen. Die Firma hat enge Verbindungen zu Ägyptens Sicherheitsbehörden. Ausserdem hat sie Ex-Militäroffiziere als Mitarbeiter, wie die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch im Jahr 2022 berichtete.
Schon 2018 berichtete das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA), dass es für die Ausreise über Rafah zwei Listen gebe: eine des Innenministeriums, kontrolliert von der Hamas, und eine, die «von den ägyptischen Behörden koordiniert» werde. Offenbar werde auf beiden Seiten der Grenze Schmiergeld gezahlt, schrieb OCHA. Der Prozess sei «verwirrend und undurchsichtig». Korruption gehört in Ägypten zum Alltag, auch wenn es bei deren Bekämpfung einige Fortschritte gab. Der Weg über die zweite Liste, bekannt als Koordinierung, sei seit Kriegsbeginn der «einzige Weg raus», sagt ein Sprecher der von der Hamas kontrollierten Grenzbehörde OCCRP. Täglich würden so derzeit etwa 200 Palästinenser und Ägypten über Rafah ausreisen.
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