Experte checkt Argumente zum Parlament
Parlamentsexperte Michael Strebel bewertet Aussagen von Befürwortern und Gegnern eines Stadtparlaments in Rapperswil-Jona.
Parlamentsexperte Michael Strebel bewertet Aussagen von Befürwortern und Gegnern eines Stadtparlaments in Rapperswil-Jona.

von Fabio Wyss und Pascal Büsser
Medial wurde Michael Strebel auch schon als der «beste Parlamentskenner der Schweiz» bezeichnet. Der Politologe hat jüngst ein Parlamentslexikon veröffentlicht, arbeitete schon für das St. Galler Kantonsparlament und baute jenes in Wetzikon mit auf. Grund genug für die «Linth‑Zeitung», ihn als Experten hinzuzuziehen. Er prüft die Top-3-Argumente des Pro- und Kontra-Komitees zum Stadtparlament in Rapperswil‑Jona. Und macht den Faktencheck. Die Argumente wurden bei den beiden Komitees angefragt. So viel vorneweg: Auf beiden Seiten gibt es Argumente, die nicht 100-prozentig den Tatsachen entsprechen. Der Beginn macht das Ja-Komitee.
«Die Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt werden bei allen wichtigen Projekten immer das letzte Wort haben»

So wie es Geschäfte gibt, welche die Stadtregierung abschliessend entscheidet (wie bisher), wird es (überschaubare) Geschäfte geben, die das Parlament abschliessend beurteilt. Die Einschätzung, was politisch wichtig ist, dürfte unterschiedlich ausfallen, jedoch ist bereits in der neuen Gemeindeordnung eindeutig definiert, was unter das obligatorische oder das fakultative Referendum fällt (Letzteres muss ergriffen werden, damit es zu einer Urnenabstimmung kommt). Die Hürden für die direkt-demokratischen Instrumente sind mit zirka 2,5 respektive 3 Prozent der Stimmberechtigten tief. Zudem kann ein Drittel der Parlamentarier von sich aus das fakultative Referendum auslösen.
Serie zum Parlament in Rapperswil-Jona
Am 12. März findet in Rapperswil‑Jona die Abstimmung über das Stadtparlament statt. Die «Linth-Zeitung» beleuchtet das Thema in einer mehrteiligen Serie. Nach einem Überblick und einem Blick nach Wetzikon bietet Teil 3 einen Check der wichtigsten Argumente. (lz)
«Ein Stadtparlament schaut der Regierung auf die Finger, fordert sie heraus und greift korrigierend ein.»

Die inhaltliche Einflussnahme auf konkrete politische Geschäfte, Themen auf die politisch-parlamentarische Agenda zu setzen und die Kontrollfunktion über Regierung und Verwaltung sind die Kernaufgaben jedes Parlaments und Grund, warum diese «erfunden» wurden. Das Parlament und seine Kommission(en) werden über die hierzu notwendigen Instrumente verfügen. Die Kontinuität des Parlaments und seiner Kommission(en) stärkt die Kontrollfunktion und erleichtert zudem die Beurteilung politischer Geschäfte.
«Jeder und jede kann sich ins Stadtparlament wählen lassen. Ein Parteibüechli braucht es dafür nicht.»

Das schweizerische Wahlrecht ermöglicht es dank Proporzsystem grundsätzlich, dass auch kleine Parteien oder Gruppierungen in ein Parlament Einzug halten können. In den Parlamenten von Gossau, der Stadt St. Gallen und Wil sind insgesamt 13 unterschiedliche Parteien, Organisationen und Zusammenschlüsse vertreten, darunter auch rein lokale, teils mit nur einem Mandat. Aber: Es braucht die Bereitschaft, sich zu exponieren, Engagement, um andere Personen für die betreffende Wahlliste zu gewinnen und Wähler und Wählerinnen von den eigenen politischen Vorstellungen zu überzeugen, um ins Parlament gewählt zu werden. Als Einzelkämpfer hat man kaum realistische Wahlchancen.
Nun zu den Argumenten des Nein-Komitees:
«Bürgerversammlung nicht abschaffen», weil «danach eine kleine Elite von 36 Parlamentariern das Sagen hat».

Die Bürgerversammlung gilt als «Urform der Demokratie», weil alle Stimmberechtigten teilnehmen könnten. Die Realität zeigt, dass im Schnitt über 97 Prozent auf dieses Recht verzichten, weil Berufs- oder Lebensumstände (etwa Schichtarbeit, fehlende Kinderbetreuung, Krankheit, andere Prioritäten) damit schwerlich regelmässig in Einklang zu bringen sind – die Urnenbeteiligung ist, da zeitlich flexibel, stets um Weiten höher. Die Parlamentarier werden durch den Souverän gewählt und erhalten dadurch eine unmittelbare demokratische Legitimität.
Parlament verursacht «hohe Steuern»

Blicken wir auf den Kanton Zürich mit 160 Gemeinden: 94 Gemeinden liegen über dem Durchschnitt des Steuerfusses, davon acht mit Parlament (inklusive der Grossstädte Zürich und Winterthur), 66 Gemeinden liegen darunter, davon fünf mit Parlament. Statistisch liegt hier kein Unterschied vor. Die Gleichung Parlament = hohe Steuern wird auch der Komplexität der Realität nicht gerecht, weil viele Faktoren darauf Einfluss haben. In unserem politischen System soll der Souverän direkt-demokratische Instrumente zur Verfügung haben, um parlamentarische Entscheide zu korrigieren. Das ist der Sinn des Referendums. Es wird schweizweit betrachtet nur gegen wenige Parlamentsbeschlüsse das Referendum ergriffen, wovon wiederum nur ein Bruchteil durch den Souverän abgelehnt werden. Den Parlamenten scheint es also meist zu gelingen, breit akzeptierte Beschlüsse zu fassen.
Parlament macht «Partei- statt Sachpolitik»

Wie bereits aufgeführt, sind gerade in Gemeindeparlamenten viele – auch lokale – Interessengruppen vertreten, ob sie sich nun als Partei bezeichnen oder nicht. Weder die Bevölkerung noch die Stimmberechtigten sind eine einheitliche Gruppe mit gleichgeschalteter Meinung, welche Regierung und Parlament gegenüberstehen. Auch Mitglieder der gleichen Interessengruppe oder Partei sind nicht immer der gleichen Meinung. Ein Fraktionszwang ist nicht nur verfassungswidrig, es ist auch Realität, dass bei Abstimmungen im Parlament Mitglieder der gleichen Partei manchmal unterschiedlich abstimmen. Unser politisches System ist – im Gegensatz zu Deutschland – darauf angelegt, veränderliche parlamentarische Mehrheiten zu ermöglichen.
Im folgenden Interview erklärt Parlamentsexperte Michael Strebel, wann Initiativen für Stadtparlamente andernorts Erfolg hatten. Welche Wirkung sie auf die Regierung haben. Und was man bei der Einführung eines Stadtparlaments beachten sollte.

«Ein Stadtparlament ist kein Experiment»
Michael Strebel, was braucht es, damit die Stimmbevölkerung einer Stadt die Bürgerversammlung für ein Parlament aufgibt?
Michael Strebel: Wenn man die neuen Parlamente anschaut, die es in der Deutschschweiz in den letzten Jahren gegeben hat, steht am Anfang ein breiter Konsens, dass die Beteiligung an der Bürgerversammlung als kritisch beurteilt wird. Das zweite ist eine breite Einsicht, dass die Bürgerversammlung gar nicht so stark Einfluss nehmen kann auf Geschäfte der Regierung.
Gibt es weitere Voraussetzungen, dass eine Mehrheit am Schluss ein Ja einlegt in die Urne?
In Städten, wo eine Mehrheit der Parteien fand, wir müssen diesen Schritt gehen, dort hat man auch eine Mehrheit an der Urne gefunden. Wenn das Anliegen von einer politischen Seite lanciert wird, dann wird es schwierig. Mitentscheidend ist auch die Haltung der Exekutive.
In Rapperswil-Jona sind Stadtrat und Parteien dafür. Gegner wittern einen Politfilz, der sich der Kontrolle der Bevölkerung entziehen will.
Dass es für eine Exekutive im Parlament einfacher ist, Geschäfte durchzubringen als in der Bürgerversammlung, ist wissenschaftlich nicht haltbar. Das Gegenteil ist richtig. Für die Regierung ist es ein grosser Systemwechsel. Das zeigte sich auch in Wetzikon.
Gegner befürchten Lähmung und Blockaden, weil auch unbestrittene Geschäfte durch den Parlamentsprozess gebremst würden.
Dass Geschäfte durch das Parlament zurückgewiesen werden, kommt vor. Dadurch kann aber auch die Qualität steigen. Zudem gibt es Geschäfte, die auch zügig durchs Parlament gehen. Der höhere Sitzungsrhythmus gegenüber der Bürgerversammlung kann Geschäfte auch beschleunigen. Ich plädiere dafür, nicht alles schwarz-weiss zu sehen. Was mir noch wichtig scheint: Ein Stadtparlament ist kein Experiment. Es gibt viele Anschauungsbeispiele in der ganzen Schweiz.
Ein reales Problem vielerorts ist die Fluktuation mit einem Drittel bis im Extremfall der Hälfte der Parlamentarier, die noch in der Amtszeit ausscheiden. Gibt es Gegenmittel?
Hohe Fluktuation ist bei gewissen Stadtparlamenten ein Problem, bei anderen nicht. In Wetzikon war die Konstanz in den ersten beiden Legislaturen hoch. Aber es ist so: Viele sind im Beruf engagiert, haben vielleicht noch Familie. Das ist nicht einfach mit einem Mandat zu vereinbaren, das zudem nicht finanziell attraktiv ist. Wichtig ist die Organisation: Wann sind Parlamentssitzungen und in welchem Rhythmus finden sie statt.
Rapperswil-Jona ist mit gut 28 000 Einwohnenden die grösste Stadt ohne Parlament in der Schweiz und nur eine von drei mit über 20 000 Einwohnern, wo noch eine Bürgerversammlung entscheidet. Gibt es eine wissenschaftliche Schwelle, ab welcher Einwohnerzahl ein Parlament Sinn macht?
Ich werde das oft gefragt. Und würde nie sagen, dass jede Gemeinde ein Parlament braucht. Man sollte versuchen, objektive Kriterien aufzustellen: Wie ist die Beteiligung an Bürgerversammlungen? Wie wird Einfluss genommen? Ist die Aufsicht über die Regierung sichergestellt? Aber am Schluss bleibt es eine politische Beurteilung. (pb)
Michael Strebel ist Politikwissenschafter mit Spezialisierung Parlamentarismus und politische Systeme. Er arbeitete für den St. Galler und den Solothurner Kantonsrat und war von 2014 bis 2017 erster Ratssekretär in Wetzikon. Er verfasste das 568-seitige «schweizerische Parlamentslexikon» und ist heute als Dozent und wissenschaftlicher Dienstleister tätig.