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Vom Fall der Männerrepublik

Am 7. Februar 1971 zeigte ein über 100-jähriger Kampf für die politischen Rechte der Frauen in der Schweiz erste Früchte. Ihre Nationalisierung ging unrühmlich lang – und dauert an.

Südostschweiz
01.02.21 - 04:30 Uhr
Politik
Sachlich: Am 8. Februar 1971 wurde in der «Bündner Zeitung» kurz und bündig über die Abstimmung berichtet.
Sachlich: Am 8. Februar 1971 wurde in der «Bündner Zeitung» kurz und bündig über die Abstimmung berichtet.
ARCHIV SÜDOSTSCHWEIZ

von Silke M. Redolfi*

Im Jahr 1971 stimmten 66 Prozent der Schweizer dem eidgenössischen Frauenstimm- und Wahlrecht zu, in Graubünden war die Akzeptanz mit 54 Prozent deutlich geringer. Heute stellen wir uns die Frage, weshalb dies so lange dauerte.

Die historischen Umstände des hartnäckigen Widerstands lassen sich rasch aufzählen: das im 19. Jahrhundert geborene und lange gehätschelte Konzept vom männlichen Staat, männerbündlerische Strukturen, die festsitzenden traditionellen Rollenbilder, Zweifel an der Fähigkeit der Frauen, Ängste vor einem Linksrutsch, Kantönligeist, Verfassungshemmnisse, ein tief sitzendes Patriarchat und nicht zuletzt Armut und Wirtschaftsdruck in weiten Teilen der Schweiz. Während in den umliegenden Ländern Parlamente nach Kriegen oder Krisen das Frauenstimmrecht von oben herab einführten, musste bei uns jeder Schnauz in jedem Krachen von den Vorzügen weiblicher Stimmkraft überzeugt werden.

Frauensache ≠ Frauenrechte

Die Sache hing an den Frauen. Sie mussten – obwohl politisch amputiert – kämpfen, überzeugen, unzählige Stunden in Lobbyarbeit investieren, finanzielle Mittel zur Verfügung stellen, Häme und Abwertung einstecken. Sie waren nur Bittende, die mit Petitionen, Mahnmärschen und anderen Aktionen wie der legendären Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit, Saffa 1959, landauf, landab unablässig ihre Rechte als Bürger-innen einforderten. Ihnen heute zu grosse Duldsamkeit vorzuwerfen, ist angesichts der damaligen Stimmung müssig.

Die grosse nationale Petition von 1929 wurde 30 Jahre lang schubladisiert, und die in Zürich, Basel-Stadt, Glarus, Genf und Neuenburg zwischen 1919 und 1927 wuchtig abgelehnten ersten kan-tonalen Abstimmungen wirkten nicht gerade motivierend. Krise und Krieg legten die Frauenforderungen zusätzlich auf Eis.

Das grosse Desaster 1959

Als der Bundesrat nach Protesten gegen ein Zivilschutzobligatorium für Frauen 1957 endlich die erste Vorlage zur Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts vorlegte, wähnten sich die Frauenverbände am Ziel. Hatten sich die Schweizerinnen mit ihrem Einsatz im Zweiten Weltkrieg das Vollbürgerrecht nun nicht verdient? Und mit Justizminister Markus Feldmann (BGB, später SVP) als Befürworter konnte die Wende klappen. Bereits bei der frauenfreundlicheren Bürgerrechtsreform von 1952 hatte er die Hardliner im Parlament zu senkeln vermocht. Doch der beliebte Magistrat verstarb 1958 im Amt, die erste Abstimmung zum Frauenstimmrecht erlitt 1959 mit 65 Prozent Neinstimmen Schiffbruch. In Graubünden sagten fast 80 Prozent Nein.

Wertewandel in den Sechzigern

Doch die Zeit arbeitete für die Rechte der Frauen. Mit dem Wertewandel in den 1960er-Jahren veränderte sich auch die Ansicht über ihre Stellung. Jugendbewegung und neue Frauenbewegung stellten das verkrustete, autoritäts-gläubige Schweizer System massiv infrage. Wirtschaftlicher Aufschwung, Bildung und Mobilität brachten Öffnung und Anbindung an die Moderne.

Lauter wurden auch die Frauenrechtlerinnen. Legendär der Marsch auf Bern 1969 mit einer umwerfenden Emilie Lieberherr im roten Mantel und mit Trillerpfeife. Sekundiert von vielen Demonstrierenden rebellierte sie gegen einen Bundesrat, welcher die Europäische Menschenrechtskonvention unter Ausklammerung der Frauenrechte unterschreiben wollte. Schliesslich gelang es, das «einig Volk von Brüdern» 1971 aus seiner demokratischen Einbahn zu holen.

Männerbastion

Nach 1971 ging es darum, auch noch die letzten Bummelkantone zur Vernunft zu bringen. Bis 1990 mussten 16 kantonale Abstimmungen gewonnen werden. In Graubünden bodigten die Stimmbürger aus Angst vor dem Verlust der Gemeindeautonomie 1968 eine erste kantonale Vorlage mit 66 Prozent Nein deutlich.

Erst 1972 kam der Durchbruch. Verantwortlich für die erfolgreiche Kampagne war die Frauenzentrale Graubünden unter ihrer Präsidentin Isa Hämmerle-Planta. Mittlerweile mit der Kunst der Propaganda vertraut, knöpften sich die Vorstandsfrauen die Alphatiere einzeln vor. Hämmerle reiste zu Nationalrat Bühler nach Flerden, «danach schrieb er mehrere Leserbriefe und Aufrufe». Doch die härtesten Knacknüsse blieben die Gemeinden. Noch 1983 regierten in 17 Bündner Orten nur Männer. Erst auf Druck des Kantons ward dem patriarchalen Gebaren ein Ende gesetzt.

Die Erbinnen von 1971

An den Folgen der verspäteten politischen Rechte arbeiten wir uns noch heute ab. Noch immer ist die politische Repräsentanz der Frauen in Graubünden bescheiden, und die Entscheidungsträgerinnen in Chefetagen sind an einer Hand abzuzählen. Dennoch zeigen sich Silberstreifen am Horizont. Die frauenbewegte Nationalratswahl, junge Frauen an Spitzen von Parteien, einflussreiche Gemeindepräsidentinnen, gut ausgebildete und initiative Frauen in Wirtschaft und Gesellschaft bringen Bewegung in den Staat.

Jüngste Abstimmungsanalysen zeigen, dass Frauen ökologischer und sozialer abstimmen, und zwar von links bis rechts und als politische Meinungssetzerinnen oder als Expertinnen nicht mehr zu übergehen sind. Junge, gut ausgebildete und selbstbewusste Frauen suchen neue Formen der Beteiligung. Sie stellen überkommene Werte infrage, fordern Ethik in der Wirtschaft und mehr Schutz für unsere Umwelt. Die Pionierinnen von damals wären wohl stolz auf die Erbinnen von 1971.

*Silke Margherita Redolfi ist freiberufliche Historikerin, Autorin und Archivarin. Sie leitet das Frauenkulturarchiv Graubünden. Ihr Forschungsschwerpunkt ist Frauen- und Rechtsgeschichte. Redolfi lebt in Masein (hap).

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