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Zwischen Bestätigung und Bedauern

Am Mittwoch wurde der Bundesgerichtsentscheid zum Bündner Wahlsystem bekannt. Rund die Hälfte der Vertreter im Grossen Rat wurde nicht verfassungsmässig gewählt. Nun muss ein neuer Vorschlag der Regierung her. Und das denken die Parteien zum Urteil.

22.08.19 - 04:30 Uhr
Politik

Im Jahr 2013 wurde eine Initiative zur Einführung der Proporzwahl in Graubünden mit 56 Prozent vom Bündner Stimmvolk abgelehnt. Ein Bundesgerichtsurteil besagt jetzt aber, dass die heutige Form des Wahlsystems teilweise verfassungswidrig ist. Des einen Freud, des anderen Leid.

«Ein zukunftsfähiges Wahlsystem»

SP-Parteipräsident Philipp Wilhelm ist einer der Beschwerdeführer. Er freut sich über das Urteil: «Für die Partei bestätigt das Urteil, was auch meine Vorgängerinnen und Vorgänger gesagt haben. Es ist ein Meilenstein in der Bündner Politik. Wir hatten langjährige Auseinandersetzungen dazu.»

«Das Urteil soll ein Anstoss sein, das Wahlsystem in Graubünden anzuschauen und es mit einem ganzheitlichen Blick zu reformieren, sodass wir eine standhafte Wahlordnung haben, die zukunftsfähig ist», äussert sich Wilhelm gegenüber Radio Südostschweiz.

Auch die Verda Graubünden empfindet den Entscheid als wichtig. «Für Verda – Grüne Graubünden ist das eine wichtige Weichenstellung für ein faires Wahlrecht in Graubünden», schreibt die Partei in einer Mitteilung am Mittwoch.

Ebenfalls äussert sich die Grünliberale Partei Graubünden zum Urteil. Sie schreibt über das aktuelle Wahlsystem: «Es benachteiligt die kleinen Parteien und führt dazu, dass die Parteien im Parlament aufgrund der mangelnden Stimmkraftgleichheit nicht gemäss ihrer Stärke vertreten sind», schreibt Parteipräsident Gaudenz Bavier. Die GLP freue sich über den Entscheid.

FDP und SVP wollen handeln

Die FDP nimmt den Entscheid mit einem gewissen Wohlwollen zur Kenntnis, zumal er nicht überrasche und «alle Seiten etwas zufrieden stimmen mag». Für einen Grossteil des Kantons sei das bestehende System weiterhin in Ordnung, für die übrigen Wahlkreise müsse man jetzt halt eine Anpassung vornehmen. Wichtig für die FDP seit, dass das Parlament den Kanton und seine Bevölkerung im Parlament möglichst widerspiegle. Dazu gehöre «die Vertretung der verschiedenen Sprachen, Täler, Regionen und Kulturen.» Die Vielfalt Graubündens müsse im Parlament erhalten bleiben. Es ist nun die Aufgaben der Regierung und der Parteien, Lösungen zu finden, die für die Stimmbürgerschaft des Kantons einfach, klar und nachvollziehbar sind, blickt die Partei voraus.

Die SVP nimmt den Entscheid «mit Genugtuung» zur Kenntnis, wie die Partei in einer Mitteilung schreibt. Denn seit Jahren kämpfe sie für ein faires, gerechtes Wahlsystem auch in Graubünden. Die Partei erwartet auch von den Mitteparteien, welche seit Jahren ein gerechtes Wahlsystem bekämpft haben, dass sie auf dieses Urteil reagieren und Hand bieten, für eine schnellstmögliche Beseitigung dieser Verfassungswidrigkeit, schreibt die SVP weiter.

«Erstaunen und Bedauern»

Auf der anderen Seite stehen FDP, CVP und BDP, die sich gegen eine Anpassung des Wahlsystems wehren wollen. Die CVP Graubünden nehme das Urteil des Bundesgerichts zum geltenden Wahlverfahren für den Grossen Rat «mit Erstaunen und Bedauern zur Kenntnis», teilt die Partei in einem Schreiben mit. Wiederholt habe das Bündner Stimmvolk über das geltende Majorzverfahren abgestimmt. Das Bundesgericht gewichte nun aber den verfassungsmässigen Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit höher. Mit der Folge, dass in Teilen das herrschende Wahlsystem als verfassungswidrig erklärt wird.

Die CVP werde nun das Urteil prüfen und einen Vorschlag erarbeiten, der den Verhältnissen im Kanton zugeschnitten sei. Es solle die Anliegen der Randregionen berücksichtigen und auch den kleineren politischen Gruppierungen gerecht werden, schreibt die Partei.

CVP-Grossrat Reto Crameri aus dem Wahlkreis Alvaschein äusserte sich am Mittwoch auf Twitter zum Urteil. Er schreibt: «Ein unglaublicher Entscheid! Das Bundesgericht missachtet damit den Volkswillen der Bündnerinnen und Bündner, den wir bereits acht Mal an der Urne geäussert haben! Immerhin bestätigt das BG (Bundesgericht), dass in 32 Kreisen unser Wahlsystem zulässig ist!»

Heute wird in Graubünden im Majorzsystem gewählt. Das Majorzsystem ist in der Schweiz ein Auslaufmodell. Neben Graubünden wird der Majorz für Parlamentswahlen nur noch in Appenzell Innerrhoden angewendet und Appenzell Ausserrhoden kennt eine Mischform aus Majorz und Proporz. In Graubünden ist das Majorzsystem seit Jahrzehnten umstritten. Seit 1937 wurden acht Proporzmodelle zur Volksabstimmung vorgeschlagen. Ein einziges Mal, 2003, siegten die Befürworter des Proporzes. Die Abstimmung wurde jedoch wiederholt, und es gewannen wieder die Verfechter des Majorzes. Das letzte Mal wurde der Wechsel zum Proporz im März 2013 an der Urne abgelehnt – mit 56 Prozent der Stimmen.

Beim Majorz, auch Majorzwahl oder Mehrheitswahl, werden die Kandidaten gewählt, die am meisten Stimmen erhalten.

Beim Proporz, auch Proporzwahl oder Verhältniswahl, werden nicht Kandidierende direkt gewählt, sondern in erster Linie die Partei und erst dann die Kandidaten.

Anna Nüesch ist freie Mitarbeiterin und arbeitet neben ihrem Multimedia-Production-Studium bei der Südostschweiz in den Redaktionen von Online/Zeitung und TV. Zuvor hatte sie ein Praktikum bei diesen Kanälen absolviert. Mehr Infos

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