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Vergessen wir die falschen Probleme!

Andrea
Masüger
31.07.18 - 04:30 Uhr
Politik
Kommentar

Kantonsräte der EDU und der SVP wollten Anfang Juli in Zürich das Erlernen der Schweizer Nationalhymne in den Lehrplan der Volksschule aufnehmen. Wenn schon ein jugendlicher Star wie der Fussballer Mbappé auf dem Rasen die Marseillaise schmettern könne, sei dies auch Primeros und Secondos in der Schweiz zuzumuten. Der Vorstoss wurde abgelehnt, aber er zeigt ein hierzulande weitverbreitetes Verhaltensmuster: Wir versuchen stets mit Inbrunst, Scheinprobleme zu lösen.

Ist es ein Problem, wenn nur ein Drittel der Schweizer Fussballnationalmannschaft den Schweizerpsalm beherrscht und vor einem Match peinlich irgendetwas Unverständliches dahernuschelt? Ein Problem wäre eher, wenn wir nur unsere schweizerischsten aller schweizerischen Leute spielen lassen würden – dann hätten wir nämlich kaum jemanden auf dem Fussballfeld. So müssen wir uns eben nach der Decke strecken und aus der Schweiz das Beste machen, das wir haben.

Scheinprobleme haben da keinen Platz. Wir diskutieren einen Sommer lang über die Frage, ob man wirklich acht Tage im Voraus einen ausländischen Arbeiter anmelden muss, der in der Schweiz einen Auftrag ausführen soll. Und wir lassen darob fast ein Abkommen mit der EU platzen, das eigentlich «Öl im Getriebe der Wirtschaft» (Ignazio Cassis) sein sollte. Wir diskutieren auf hoher Abstraktionsebene, welches Völkerrecht dem einheimischen Recht vorangehen soll, als ob das im Alltag irgend jemanden berühren würde. Wir sehen uns von Flüchtlingen bedroht, obwohl die Zahlen laufend nach unten zeigen. Und wir werden darüber abstimmen, ob man den Kühen die Hörner abschneiden darf.

Neben diesen Spiegelfechtereien beschäftigt sich die Schweiz auch noch mit tatsächlichen Problemen, die aber weit grösser scheinen, als sie tatsächlich sind. Die ganze Sicherung der Alterswerke wäre machbar, wenn man dem Volk endlich mal reinen Wein einschenken würde und sich die Debatte nicht nur auf die Interessenpolitik von linken Parteien und Gewerkschaften beschränkte, die sich primär aufs Geldumverteilen konzentrieren. Die Gesundheitskosten steigen vor allem, weil sich die Interessen der verschiedensten Player zu einem gordischen Knoten verstrickt haben, den sich niemand durchzuhauen getraut. Es geht uns zu gut, und es fehlt uns daher der Mumm, Dinge wirklich anzupacken.

Das Problem ist also, dass wir keine Probleme haben. In einer grossen Sommerserie unter dem Titel «Alles wird besser» zeigt die NZZ derzeit auf, dass wir in Sachen Bildung, Wohlstand, Gesundheit, Infrastruktur, Umwelt und Sicherheit heute weit besser dastehen als noch vor wenigen Jahrzehnten. Die Schweiz ist nicht nur ein Land mit erstklassigen Binnenleistungen, sondern noch immer eine Innovationsplattform, die international ausstrahlt. Wir sind wichtiger als wir meinen.

Daher sollten wir uns zu Beginn des Monats August, wo wir unseren nationalen Geburtstag feiern, wieder mal über einige wenige Punkte klar werden: Erstens dürfen wir unsere Beziehungen zur EU nicht schlechtreden und uns von aufgebauschten Hindernissen wie «fremden Richtern» nicht kirre machen lassen. Gleichzeitig dürfen wir uns nicht duckmäuserisch verhalten, sondern selbstbewusst verhandeln und auch mal provokativ auftreten, was Nationalrätin Magdalena Martullo nicht zu Unrecht fordert. Zweitens brauchen wir eine offene Wirtschaft, keinen regulatorischen Overkill und weniger rote Linien hier und dort. Drittens müssen wir uns den Lebensraum und die Tierwelt bewahren (und hier ist manchmal eine rote Linie doch erforderlich). Und viertens müssen wir unsere humanitäre Tradition aufrechterhalten und unsere guten Dienste international anbieten, ungeachtet der gegenwärtigen Migrations-Hysterie.

Wenn uns das alles gelingt, brauchen wir auch keine Nationalhymnen-Ausbildung in der Primarschule.

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