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Die geteilte Stadt

Vukovar war im Jugoslawienkrieg die am stärksten umkämpfte Stadt. Bis heute wirkt die Vergangenheit nach. Zwischen den Kroaten und den Serben verläuft eine unsichtbare Mauer, die kaum niederzureissen ist.

Südostschweiz
18.11.15 - 05:50 Uhr
Politik

von Kristina Ivancic

Die schmalen Strassen im Osten Kroatiens sind holprig. Ein Schlagloch folgt auf das nächste. Mit jedem Meter rüttelt das Auto. Und trotzdem verlangsamt kein Fahrer die Geschwindigkeit auf dem Weg von Nustar nach Vukovar. Wie selbstverständlich rasen sie mit 80 Stundenkilometern dicht aneinander vorbei. Wegen Kleinigkeiten wird gehupt, geflucht.

Vukovar ist an diesem Nachmittag menschenleer. Niemand würde glauben, dass die Stadt 30 000 Einwohner zählt, wenn es Papiere nicht belegen würden. Kein Kind sitzt lachend auf einer Schaukel, keines schreit auf der Rutschbahn. Die Stimmung ist erdrückend. Jedes zweite Gebäude trägt die Narben des Kriegs. Faust- oder kopfgrosse Löcher von Granateneinschlägen prägen das Stadtbild. Am Rande des Trottoirs liegen Ziegel, Steine oder Kies. Es scheint, als hätte der Krieg erst gestern sein Ende gefunden.

Stecken geblieben im Jahr 1995

Franjo Soljic sitzt im Café «Influme» und trinkt eine Cola. «Hier kommen nur Kroaten her, keine Serben», sagt Soljic, als hätte er damit bereits alles gesagt. Machohaft beugt er sich auf seinem Stuhl nach vorne, stemmt seine Hand selbstgefällig aufs Knie und grinst. «Ich geh nur in kroatische Cafés. Ich pump mein Geld doch nicht den Serben in die Tasche.» Darauf ist Soljic stolz. Wieder grinst er.

Es ist seltsam, wie so vieles in Vukovar. Es gibt Cafés für Kroaten und Cafés für Serben. Schulen für Kroaten und Schulen für Serben. Discos für Kroaten und Discos für Serben. Alles läuft getrennt. An serbischen Feiertagen schliessen Kroaten in der Stadt die Fensterläden, an kroatischen Feiertagen verlassen die Serben die Stadt. Vukovar scheint im Jahr 1995 stecken geblieben zu sein – der Feind ist immer noch derselbe.

«Das ist Serbischland»

Robert Rac glaubt nicht an den Frieden in Vukovar. «Zu viel ist passiert», sagt der Nachrichtenredaktor von Radio Vukovar. Die Kriegsgeneration kann und wird «dem Feind» nie vergeben – vergessen kann sie nicht. Der Krieg nahm den Müttern ihre Kinder, den Frauen ihre Würde, den Männern ihr Leben, und den Kindern … die Kinder wurden ihrer Unschuld beraubt. «Die ältere Generation wird nie darüber hinwegkommen.» Und die jüngere? «Nein», sagt Rac bestimmt, «sie lernen zu Hause zu hassen.» In Kindesjahren wird ihnen eingetrichtert, dass Kroaten Verräter seien, und umgekehrt, die Serben Mörder.

Ein aufgebrachter Mann platzt ins Büro von Rac. Ein Kroate. «Verdammt sein sollen sie», schreit er. Rac schaut den Mann an, zieht an seiner Zigarette. «Sie haben es schon wieder getan», sagt der Fremde. «Diese Serben haben die kroatische Fahne angezündet und meine Fassade beschmiert.» Rac löscht seine Zigarette, greift zum Stift. «Noch mal. Was ist passiert?», fragt er. Der Mann setzt sich. «Die Serben haben meine Fahne angezündet. Sie hing im Garten an einem Mast. Und die Wand haben sie mit Sprühfarbe beschmutzt.» Der Kroate – er möchte anonym bleiben – zieht ein Foto aus der Tasche. «Ustascha verschwinde von hier. Das ist Serbischland», steht da mit schwarzen Buchstaben.

Streit um die kyrillische Schrift

Versöhnung und ein gemeinsames Miteinander gibt es für Franjo Soljic nicht. «Von mir aus können die in Vukovar bleiben. Sie sollen sich einfach von mir fernhalten.» Soljic ist verbittert. Er fühlt sich nicht verstanden. Nicht von der Regierung. Nicht von den Europäern. Von niemandem wirklich. «Die glauben, wir Kroaten in Vukovar sind alle Rassisten. Aber das sind wir nicht.» Als Präsident des Vereins «Verteidigung eines kroatischen Vukovars» sei es aber seine Pflicht, Vukovar zu schützen.

Nur, vor wem?

Soljic wendet seinen Blick ab. Sich mit führenden Serben der Stadt an einen Tisch zu setzen, um nach einer Lösung für ein friedliches Leben zwischen Kroaten und Serben zu suchen, ist für ihn keine Option. Soljics Augen werden glasig. Er blinzelt einige Male, um die Tränen verschwinden zu lassen. «Ich kann nicht. Die haben meinen Bruder umgebracht.» Soljic ballt die Fäuste. «Verstehen Sie? Ich sehe die Mörder auf der Strasse rumlaufen. Um sie hinter Gitter zu bringen, fehlen aber die Beweise. Doch wo willst du die finden? Die Stadt lag ja in Trümmern.» Es ist einer der Gründe, warum Soljic nicht will, dass die kyrillische Schrift in Vukovar eingeführt wird. «Davor müssen wir Vukovar schützen», sagt Soljic überzeugt. «Mein Bruder wurde unter dem kyrillischen Zeichen umgebracht.» Soljic erklärt das so: Als Serben die Stadt mit Bomben und Granaten beschossen, so geschah dies unter dem Zeichen «Bykobap» – Vukovar in kyrillischer Schrift. Auf Jacken und Kappen serbischer Soldaten war «Bykobap» eingenäht. Auf Panzern wurden Tafeln mit der Aufschrift «Bykobap» angebracht. Auf Häuserfassaden wurde jedes Mal, wenn ein Haus fiel, «Bykobap» gesprüht. So wollte die Armee bei der Eroberung klarstellen, dass Vukovar zu Serbien gehört.

«Jedes Mal, wenn ich also 'Bykobap' sehe, zum Beispiel auf der Tafel vor dem Gemeindehaus, muss ich sie wegreissen. Sie erinnert mich daran, wie sie meinen Bruder umgebracht haben, wie meine Freunde gefoltert wurden.» Soljic reibt sich die Hände. «Für den Rest der Welt ist das einfach eine Schrift, und wir die Rassisten, weil wir den Serben ihre Rechte nicht gönnen. Für uns ist es die Erinnerung an 1991. ‘Bykobap’ ist für mich etwa so schlimm, wie für die Juden das Hakenkreuz.»

«Herzen voller Hass»

«Ach, die sollen mal aufhören, sich so aufzuspielen», sagt Miroslav Vukadinovic. Der Serbe sitzt in einem serbischen Café am Ufer der Donau. «Wie würden die sich fühlen, wenn wir ihnen verbieten würden, alles in lateinischer Schrift zu verfassen?» Der 38-Jährige zieht eine Augenbraue hoch. «Ich habe meinen Vater auch in diesem elenden Krieg verloren. Und kümmert die das? Nein.» Trotzdem glaubt Vukadinovic an den Frieden. «Nicht bei der Kriegsgeneration. Aber bei ihren Enkeln vielleicht.» Es müsse aber noch viel mehr Gras über die Sache wachsen, bevor der Frieden zurückkehrt.

Heute vor 24 Jahren ist Vukovar im Krieg gefallen. Es ist einer der seltenen Tage, an denen das kroatische Volk Einheit demonstriert. Kroaten hissen ihre Flagge, sprechen über die «Stadt der Helden» – Vukovar. Vukadinovic versteht das nicht. Er versteht die Kroaten nicht. «Kroaten rufen an diesem Tag lauthals ‘Vergesst Vukovar nicht’ – ‘Gott und die Kroaten’ – ‘Bereit für die Heimat’», sagt Vukadinovic. «Gleichzeitig tragen sie ihre Rosenkränze um den Hals, gehen sonntags in die Kirche, sprechen über ihren Glauben.» Vukadinovic kneift die Augen zusammen, die Sonne blendet stark. «Sie tun wie die grössten Gläubigen, aber ihre Herzen sind voller Hass.»

Politik steht im Weg

Robert Rac nickt. «Vukovar ist immer noch voller Hass. Aber nur, weil die Wunden der Menschen nicht verheilt sind. Und das werden sie erst, wenn sie ihre Toten und Vermissten finden.» Noch immer fehlen Hunderte Leichen, wie Listen zeigen. Niemand weiss, wo weitere Massengräber liegen könnten. «Die Opfer wissen nicht, wo die Überreste des Vaters, des Sohns, des Onkels liegen. Ohne sie würdevoll begraben zu können, wird es auch nie möglich sein zu verzeihen.» Das ist für Rac der Hauptgrund, warum es zwischen den Serben und Kroaten, die den Krieg erlebt haben, nie zur Versöhnung kommen wird. Bei den Jungen sieht er das Hauptproblem in der Politik. «Die Jungen können sich nicht von Grund auf hassen, die haben ja mit dem Krieg nichts zu tun. Es ist die Politik», sagt Rac. Davon sind auch Soljic und Vukadinovic überzeugt.

Serbische und kroatische Kinder in Vukovar besuchen keinen gemeinsamen Unterricht. Das wurde von der Politik so beschlossen – im Jahr 1998. Seither wurde nichts geändert. «Wenn Kinder keine gemeinsame Schule besuchen, lernen sie sich auch nicht richtig kennen», meint Rac. Soljic stimmt dem zu. «Politiker sprechen stets von der Normalität, die in Vukovar einkehren muss. Sie sprechen über das Vergeben, das Vergessen – und von Reintegration. Aber dann trennen sie die Kroaten und Serben. Wie sollen Junge zueinanderfinden, wenn Politik das nicht zulässt?»

Keine Chance auf Versöhnung

20 Jahre sind seit dem Ende des Jugoslawienkriegs vergangen, aber Vukovar will den Schritt in die Zukunft nicht wagen, so scheint es zumindest. Lediglich eine kleine, stille Minderheit versteht sich. Die anderen leben mit dem Rücken zueinander. Vielleicht kennt man den serbischen Nachbarn oder die kroatische Mitbewohnerin, und die mag man – mit dem «Rest» will man nichts zu tun haben. Die Versöhnungsarbeit gestaltet sich schwierig. Nur schon, weil jede Ecke, jedes Haus in der Stadt an 1991 erinnert: Jedes vom Krieg vernarbte Gebäude, Denkmäler von Kriegshelden, die tausend weissen Kreuze der «gefallenen Helden». Über der Stadt Vukovar wiegt ein unsichtbarer Schleier, dem niemand so schnell entkommen kann.

Dieser Artikel ist Teil einer Serie «Jugoslawienkrieg: 20 Jahre danach».

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