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Der lange Schatten des Kriegs

Die Nachfolgestaaten Bosnien, Kroatien 
und Serbien haben sich vom Krieg der Neunzigerjahre noch lange nicht erholt. 
Bis heute wirkt er nach.

 

Südostschweiz
14.11.15 - 14:46 Uhr
Politik

von Norbert Mappes-Niediek

Woher sie kommt, weiss niemand, aber es dauerte nur Tage, bis eine kleine Grafik über die Sozialen Medien auf so ziemlich jedem kroatischen PC landete. Jemand hat einfach Zahlen gegenübergestellt – auf der einen Seite jene aus der Republik Kroatien des Jahres 2015, auf der anderen die entsprechenden der «Sozialistischen Republik Kroatien» von 1990. Der Befund ist verblüffend und wurde tausendfach geteilt.

Die Einwohnerzahl des kleinen Landes ist seit damals beträchtlich gesunken, noch stärker die Zahl der Geburten. Bekamen Rentner 1990 noch drei Viertel des durchschnittlichen Nettogehalts, so sind es heute nur noch 39 Prozent – wobei damals 2,83 Beschäftigte auf einen Rentner kamen und heute nur noch 1,13. Die Zahl der Übernachtungen im Tourismus, eine wichtige Kennziffer für die Wirtschaft, ist heute annähernd gleich wie 1990. Nur waren damals 33 Prozent der Touristen Inländer. Heute sind es acht Prozent; man kann sich Ferien an der Adria einfach nicht mehr leisten. Aber auch Fortschritte gibt es, wie die Grafik bitter konstatiert. Hatte Kroatien damals 9000 Polizisten, sind es heute stolze 20 000 – die vielen privaten «Securities» nicht eingerechnet.

Sehnsucht nach verlorener Zeit

Tatsächlich weht ein leiser Hauch von Jugo-Nostalgie nun auch durch Kroatien – die Nation, die sich damals am sehnlichsten die Unabhängigkeit von Jugoslawien herbeisehnte. Erstmals wird offen diskutiert, was damals besser und was schlechter war im Sozialismus. Kroatien ist heute zwar in der EU, aber auch das siebte Jahr in Folge in der Rezession. Die Industrieproduktion hat das Vorkriegsniveau nie wieder erreicht. Bei allen Umfragen nach dem «bedeutendsten Kroaten aller Zeiten» rangiert Tito, der kommunistische Diktator, auf Platz 1 – vor dem Staatsgründer Franjo Tudjman. Es ist die Sehnsucht nach der verlorenen Zeit. Ernsthaft wünscht sich in Kroatien den Vielvölkerstaat kaum jemand zurück. Schliesslich sind die Mitbürger von damals und Nachbarn von heute noch schlechter dran.

Bosnien hat sich vom Krieg nie erholt – die Kämpfe zwischen den drei Volksgruppen werden mit politischen Mitteln weitergeführt. Serbien, das selbst nur einige Wochen im Jahr 1999 einen Luftkrieg durchlebt hat, ist wirtschaftlich und gesellschaftlich stark zurückgefallen: Lag es vor dem Krieg annähernd gleichauf mit Kroatien, so erwirtschaftet es heute weniger als die Hälfte der kroatischen Wirtschaftsleistung. Politisch kämpft das Land gegen den Hass seiner Nachbarn und das Misstrauen der Westmächte. Das dysfunktionale Bosnien schliesslich wird als Staat von niemandem ernst genommen, am wenigsten von den eigenen Bürgern.

Ressentiments, die schlummern

Hass zwischen den Volksgruppen hat in der Öffentlichkeit der Nachfolgestaaten keinen Platz; in den Herzen aber sitzt er weit tiefer als vor dem Krieg. In Kroatien ist die serbische Minderheit aus dem öffentlichen Bewusstsein weitgehend verschwunden – ausser, der Minderheitenvertreter Milorad Pupovac meldet sich zu Wort und wird bei jedem seiner Statements aus radikalen Veteranenkreisen mit Abscheu überschüttet. Kommt ein Serbe, selten genug, in eine öffentliche Position, muss er mit heftigem Gegenwind rechnen – ohne dass seine Volkszugehörigkeit dabei genannt würde. Von einst 580 000 Serben sind gerade noch 187 000 geblieben – und selbst von ihnen lebt ein grosser Teil nur formal noch in Kroatien, um ihr Eigentum zu bewahren. Von den wenigen jungen Serben fühlen und deklarieren sich etliche inzwischen selbst als Kroaten; das Konzept von der Minderheit oder der «Nation», aus jugoslawischer Zeit wird von ihren Altersgenossen gar nicht mehr verstanden.

Serbien, das im Krieg zwischen auftrumpfendem Nationalismus und der völkerverbindenden Pose des «guten Jugoslawen» schwankte, hält sich heute auf seine Toleranz viel zugute – vor allem gegenüber den Roma, die als Urbild alles Balkanischen gelten und mit denen auch rechtspopulistische Lokalpolitiker gern Feste feiern. Aber unter der Oberfläche schlummern grosse Ressentiments gegen «dreckige» 
und «primitive» Muslime, «falsche» Kroaten, «treulose» Slowenen. Mit den Albanern im Kosovo schliesslich, de-nen das Milosevic-Regime so lange so übel mitspielte, haben nicht einmal liberale Oppositionelle Mitleid.

Bosnien – ein zerrissener Staat

In Bosnien, dem Land, das von allen den schlimmsten Krieg erlebte, leben Bosniaken, Serben und Kroaten heute mit dem Rücken zueinander. Srpska, die Serbische Republik, gebärdet sich wie ein selbstständiger Staat; wer dort lebt und es nicht weiss, würde nie erfahren, dass die Republik zu Bosnien gehört. Junge Serben kennen Bosniaken nur in deren durchfahrenden Autos – und umgekehrt.

Vor allem die serbische Seite sträubt sich dagegen, dass der zerrissene Staat wieder zusammenwächst. Sie hat dafür einen plausiblen Grund: Als 
moralischer Verlierer des Krieges wol-
len die Serben ständigem Rechtferti-gungsdruck entgehen. Wer immer als 
Serbe im Gesamtstaat eine Funktion übernimmt, muss sich Fragen gefallen lassen: Wo war er im Krieg? Wen hat er wann gewählt? Wo stand der Vater, der Bruder? Mit jedem Gedenken an das schreckliche Massaker von Srebrenica am Ende des Krieges verschlechtern sich die Chancen der Serben auf Zugang zu den Posten und Ressour-
cen des gemeinsamen Staates. Der bosnisch-serbische Präsident Milorad Dodik wirft den anderen die «Srebrenisierung» des Krieges vor: Ein tragisches Geschehen würde umgedeutet zu einem völkermörderischen Vorhaben einer Seite, eines ganzen Volkes.

Es ist noch ein weiter Weg

Im Rückblick auf den Krieg schreibt jede Seite ihre eigene Geschichte. Wo in Serbien von einem Bürgerkrieg gesprochen wird und vage die «Devedesete», die schlimmen Neunzigerjahre, da-
für verantwortlich gemacht werden, hat für die Kroaten eine «serbische Aggression» gegen die Unabhängigkeit und Integrität Kroatiens stattgefunden. Dass es ein «grossserbischer» Angriffskrieg war, steht in Kroatien inzwischen sogar in der Verfassung und darf nicht angezweifelt werden. Vor allem in Kroatien, aber auch in Bosnien herrscht ein ausgeprägter Veteranenkult, über den viele murren, der aber kaum öffentlich infrage gestellt wird. Kriegsteilnehmer, auch angebliche, bekommen in beiden Ländern die weitaus üppigsten Renten – was Neid und ab und zu auch Zweifel daran nährt, ob jemand wirklich gekämpft hat. In Bosnien sind es die Islamisten, die das Andenken an die «sehidi», die Märtyrer des Krieges, gern nützen, um sich politisch aufzuwerten. In Serbien gibt es keinen Veteranenkult, weil das Land offiziell am Krieg gar nicht teilgenommen hat; in Srpska schliesslich treten als Veteranen vorwiegend alte Herren vom Lande auf, die gern Schnaps trinken und sich von ihrem Präsidenten gern als Manipulationsmasse benutzen lassen.

Versöhnungsgesten blieben bisher auf die formelle, diplomatische Ebene begrenzt. Am weitesten gebracht haben es dabei die letzten Präsidenten Kroatiens und Serbiens, Ivo Josipovic und Boris Tadic. Tadic entschuldigte sich für Srebrenica und brachte sogar eine Erklärung durch das Parlament. Josipovic nahm die Entschuldigung Tadics für die Zerstörung von Vukovar entgegen und verbeugte sich seinerseits vor den muslimischen Opfern eines kroatischen Massakers in der Herzegowina. Wie weit der Weg noch ist, machte der Besuch des serbischen Premiers Aleksandar Vucic in Srebrenica zum Jahrestag des Massakers im Juli deutlich. Wütende Muslime vertrieben ihn mit Steinwürfen.

Dieser Artikel ist Teil einer Serie «Jugoslawienkrieg: 20 Jahre danach».

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