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Zorten statt Tripolis, 
Jamena statt Zillis,
 Susch statt Jamena

Die Biografie von Jelena Jovanović spielt zwischen Serbien und der Schweiz. Als der Krieg auf dem Balkan begann, flüchtete sie bei Nacht und Nebel. Und fühlt sich heute ein bisschen zwischen den Ländern.

Südostschweiz
12.11.15 - 21:25 Uhr
Politik

von Olivier Berger

Sie ist eigentlich ein Weihnachtskind, geboren am 25. Dezember 1978 in Belgrad. In der serbisch-orthodoxen Kirche wird Weihnachten aber erst am 7. Januar gefeiert. «Das war damals noch Jugoslawien», sagt Jelena Jovanović. «Die Katholiken bei uns haben Weihnachten am 25. Dezember gefeiert, also bin ich mindestens ein halbes Weihnachtskind.» Sie lacht. Bis sie vierjährig war, wuchs Jovanović in Belgrad auf, im Stadtteil Zemun. «Dann wollten meine Eltern nach Libyen auswandern», erzählt sie. «Meine Mutter hat aber den sogenannten Wüstentest nicht bestanden, weil sie ohnmächtig geworden ist.» Statt in Gaddafis Tripolis landete Familie Jovanović in Zorten. «Es gibt noch ein Foto von mir, wo ich als kleines Kind auf dem Dorfbrunnen stehe und zuschaue, wie die Kinder des Dorfes im Brunnen planschen», erklärt Jelena. «Man sieht mir an, dass ich dachte, dass die spinnen, in dem kalten Wasser zu baden.»

Das «Wunder aus der Schweiz»

Den Kindergarten besuchte Jelena in Zillis. «Meine Eltern haben sich dann überlegt, wo ich eingeschult werden soll.» Weil sie nur eine Saisonnierbewilligung hatten und die Zukunft unsicher war, entschieden sich Mama und Papa Jovanović für die alte Heimat und schickten ihre Tochter zurück nach Jugoslawien. «Ich konnte kaum Serbokroatisch und war für die anderen Kinder dort sozusagen das ‘Wunder aus der Schweiz’.» Dort, das war Jamena, im 3-Länder-Eck zwischen Serbien, Kroatien und Bosnien gelegen, selber aber von Serbien aus gesehen schon jenseits des Grenzflusses Save. «Jamena ist heute die westlichste Gemeinde Serbiens», erklärt Jovanović.

Die exponierte Lage spielte in Titos Vielvölkerstaat keine Rolle. Das änderte sich im Frühling 1991 mit dem Ausbruch des Krieges zwischen Restjugoslawien und Kroatien. Jamena, der beschauliche Ort in der Vojvodina, lag plötzlich in der Nähe einiger der wichtigsten Schauplätze des Konflikts: Nach Osijek sind es etwa zwei Stunden Fahrt, nach Vukovar eine Dreiviertelstunde. «Ich weiss noch, wie ich in der siebten Klasse im Schulhaus sass und auf dem Dorfplatz standen 20 Panzer», erzählt Jovanović.

Flucht mitten in der Nacht

«Ziemlich strub» sei das für sie als Zwölfjährige gewesen, was plötzlich um sie herum passiert sei, erinnert sich Jovanović. «Es wurde über uns hinweg geschossen.» Dazu kam die Angst. Jamena sei von Eichenwäldern umgeben, sagt sie. «Es gab Befürchtungen, dass in der Nacht Übergriffe auf uns passieren oder wir angegriffen werden.»

Die Furcht vor Angriffen habe schliesslich dazu geführt, dass ihre Grosseltern im Altbau des Familienanwesens geschlafen hätten, bei vollem Licht. Sie selber habe die Nächte im Neubau des Familienhauses verbracht, in Dunkelheit, um den Eindruck zu erwecken, das Haus stehe leer. «Wenn meine Grosseltern angegriffen worden wären, hätte ich vielleicht noch Zeit gehabt, um zu flüchten», erklärt Jovanović. Und: «Ich war zwölf, 13 Jahre alt und schlief mit dem Jagdgewehr meines Grossvaters im Bett und seinem Jagdmesser unter dem Kopfkissen.»

Die Strassen von Jamena in Richtung Osten, in die nächsten grösseren Städte und Belgrad, waren zu diesem Zeitpunkt längst gesperrt. «Mein Onkel hat es dann durch die Frontlinien zu uns geschafft, auch, weil eine der Wachen meinen Grossvater kannte», erzählt Jovanović. In der Nacht vom 21. September 1991 zwischen 3 und 4 Uhr habe sie Jamena verlassen. «Ich packte einen grossen Koffer mit allem, was mir zu diesem Zeitpunkt wichtig schien: meine Schulbücher, Fotoalben, Musik- und Videokassetten sowie mein Lieblingsstofftier.» Die meisten Flüchtlinge jener Zeit hätten wohl geglaubt, bald wieder zu Hause zu sein und seien mit Gepäck aufgebrochen wie zu einer kurzen Ferienreise. «Ich hatte aber ein Gefühl, das mir gesagt hat, dass ich die emotionalen Erinnerungsstücke mitnehmen muss, weil sie sonst verloren wären.»

Zuerst nicht eingeschult

Von Jamena aus ging die Fahrt bis nach Belgrad, wo sie bei Verwandten übernachtete. «Am nächsten Morgen haben wir dann den einzigen freien Platz im Flieger nach Zürich bekommen – Businessclass, weil jemand abgesagt hatte. Aber wenn man auf der Flucht ist, bezahlt man jeden Preis.» Inzwischen waren ihre Eltern innerhalb Graubündens nach Susch umgezogen. «Dort wollte man mich zunächst einmal nicht einschulen, sondern hat verlangt, dass ich erst Deutsch lerne», erzählt sie. «Und als ich dann in die Schule durfte, musste ich zusätzlich Deutschkurse besuchen – die ehrlich gesagt schon nach zwei Monaten unnötig wurden.»

Auf das Wiederholen der sechsten Klasse folgten für Jelena Jovanović die Sekundarschule und später in Ftan die Diplommittelschule. Ein privater und ein politischer Schicksalsschlag verhinderten das geplante Kunststudium in Zürich. «Am Tag, an dem die Nato mit der Bombardierung Serbiens begonnen hat, hatte mein Vater einen schweren Arbeitsunfall.» Der Vater im Spital, die Mutter, welche die Familie in der Schweiz und Serbien allein habe unterstützen müssen: «Mir war nicht nach Studentenleben und Partys, also habe ich mir einen Job gesucht.»

Gelandet sei sie auf dem Büro in einem renommierten Zürcher Architekturbüro – was wohl dazu beigetragen hat, dass Jovanović selber an der HTW in Chur später Architektur studierte und heute im kantonalen Hochbauamt Zürich tätig ist. Arbeit war aber nicht das ganze Engagement, damals in den späten Neunzigern. «Ich bin nach Belgrad gereist und habe mich jenen angeschlossen, welche die Brücken der Stadt als lebende Schutzschilder vor Bomben bewahren wollten», erklärt sie. Der Gang in den Kosovo als freiwillige Krankenschwester sei nur an den flehentlichen Bitten ihrer Mutter gescheitert.

Und heute? «Wenn man mich im Ausland fragt, woher ich komme, sage ich: ‘Aus der Schweiz.’» Und Serbien? Sie wird nachdenklich. Serbien liege ihr am Herzen, sagt sie. Aber: «Ich habe ja nie in Serbien gelebt. Als ich gross geworden bin, war das noch Jugoslawien. Das sind meine Wurzeln.»

Dieser Artikel ist Teil einer Serie «Jugoslawienkrieg: 20 Jahre danach».

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