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Blut, Boden, Europa

20 Jahre nach dem Kriegsende 
und der Tragödie Jugoslawiens: 
Wie es zum Krieg kam und 
warum er geführt wurde.

Südostschweiz
06.11.15 - 11:15 Uhr
Politik

von Norbert Mappes-Niediek

Jugoslawien, so schien es, hatte von allen kommunistisch regierten Ländern die besten Chancen auf Reform und Übergang, als die Ideologie und die Wirtschaftsmacht des Ostblocks zu Anfang der Achtzigerjahre ins Wanken gerieten. Aber es kam ganz anders. Der Vielvölkerstaat im Osten der Adria war im Prinzip marktwirtschaftlich organisiert und kannte, anders als die östlichen Comecon-Staaten, keine zentral geplante Kommandowirtschaft. In den nordwestlichen Landesteilen näherte sich der Lebensstandard dem im Westen an. Aussenpolitisch genoss das «blockfreie» Land hohes Ansehen. Seine Bewohner durften frei reisen, viele arbeiteten im westlichen Ausland. Auch wenn es grosse Tabuzonen gab, war die Presse weit freier als in den Warschauer-Pakt-Staaten. Sogar einigermassen freie Wahlen gab es – wenn auch nicht zwischen konkurrierenden Parteien.

Spätestens seit 1974, als eine neue Verfassung in Kraft trat, genossen die sechs Teilstaaten und die beiden autonomen Provinzen, aus denen Jugoslawien bestand, weitgehende Autonomie. Sechs Jahre später starb Tito, der legendäre Partisanenführer, der sein Land dem Einfluss Stalins und der Sowjetunion entzogen und viele Reformen gewagt hatte. In seinen letzten Lebensjahren hatte der charismatische Staats- und Parteichef sein Land vor allem schiedsrichterlich regiert – und immer dann interveniert, wenn es zwischen den Republiken zum Streit kam.

Jugoslawien am Ende

Wie notwendig dieser Schiedsrichter war, zeigte sich, als er nicht mehr da war. Die «acht Zwerge», die das Land nach dem Tod «Schneewittchens» zu führen hatten, trugen eine scharfe Konkurrenz miteinander aus. Als in den Achtzigerjahren die Weltwirtschaft nach ihrer Krise wieder kräftig anzog, verschärften sich in Jugoslawien mit seinem traditionell grossen Nord-Süd-Gefälle die Gegensätze. Der Ostblock begann zu bröckeln. Gleichzeitig begann in Westeuropa die Europäische Gemeinschaft zu entstehen, wie wir sie heute kennen: als De-facto-Staat mit gemeinsamem Parlament und mit dem Ziel, eine gemeinsame Währung einzuführen. Den Verantwortlichen in den am besten entwickelten Teilrepubliken Jugoslawiens, Slowenien und Kroatien, wurde klar: Wenn wir zur künftigen «Festung Europa» dazugehören wollen, müssen wir jetzt springen. Wir können nicht warten, bis die armen Landesteile politisch und wirtschaftlich aufgeholt haben.

In Serbien, der grössten Teilrepublik, wurde die Lage als Gefahr gesehen. Der neue Präsident Slobodan Milosevic setzte seit 1986 auf mehr Zentralismus – und trieb die Wackelkandidaten Slowenien und Kroatien damit erst recht aus dem Staatsverband hinaus. Im Februar 1990 zerbrach die kommunistische Partei; die slowenischen und kroatischen Delegierten zogen aus dem Parteitag aus. Auch für Milosevic war damit klar, dass Jugoslawien am Ende war. Fortan ging es nicht mehr um den Erhalt des Vielvölkerstaats, sondern um die Verteilung der Konkursmasse unter den nachfolgenden Nationalstaaten.

Als nichts mehr ging

Noch im selben und im folgenden Jahr fanden erste freie Mehrparteienwahlen statt – in jeder Republik einzeln, nicht auf jugoslawischem Niveau. Alle wählten die Parteien, von denen sie glaubten, dass sie ihre nationalen Interessen am besten schützen würden: Im Süden waren das die jugoslawisch und sozialistisch orientierten, im Norden die autonomistischen. Im zentralen Bosnien mit seinen drei Nationen wurde die Wahl zu einer Art Volkszählung. Es siegten die drei nationalen Parteien der muslimischen Bosniaken, Serben und Kroaten.

Nichts ging mehr. Ende Juni 1991 erklärten sich Slowenien und Kroatien für unabhängig. Die Jugoslawische Volksarmee, die einzige noch funktionierende Institution des Gesamtstaats, unternahm einen halbherzigen Versuch, die Grenzübergänge Sloweniens nach Österreich und Italien zu erobern. Nach nur zehn Tagen zog sie sich vor dem bewaffneten Widerstand der Slowenen zurück; die Unabhängigkeit des kleinen Landes war damit besiegelt.

Anfang der «Säuberungen»

Anders als in Slowenien lebte in Kroatien eine bedeutende serbische Minderheit in eigenen Siedlungsgebieten. Die Serben widersetzten sich der Unabhängigkeit. Es kam zu Scharmützeln um Polizeistationen. Schliesslich griff die Volksarmee auf der Seite der Serben ein und besetzte mehr als ein Viertel des kroatischen Staatsgebiets. Die Kroaten wurden aus dem Gebiet grossflächig vertrieben – die ersten «ethnischen Säuberungen», für die Jugoslawien so berüchtigt werden sollte. Anfang 1992 zogen UNO-Blauhelme in das Gebiet ein. Die Vertreibungen gingen trotzdem weiter.

Nach dem Auszug Sloweniens und Kroatiens hatten die Serben im nunmehrigen «Rest-Jugoslawien» ein starkes Übergewicht. Noch stärker wurde es, als sich im Herbst auch Mazedonien, die südlichste Republik unabhängig machte – als einzige ohne einen Schuss Pulver.

Die blutigste Etappe der Kriege

Für das ethnisch gemischte Bosnien musste die neue Lage zur Zerreissprobe werden. Am 29. Februar und 1. März 1992 stimmten auch die Bosnier über die Unabhängigkeit ab. Genauer gesagt: Nur die Muslime und die Kroaten; die Serben boykottierten das Referendum und gründeten eine eigene «Republik Srpska» (Serbischland). Anfang April brach der Krieg aus. Noch im selben Jahr begannen auch Muslime und Kroaten, gegeneinander zu kämpfen. Die bosnische wurde zur blutigsten Etappe der jugoslawischen Nachfolgekriege und kostete 100 000 Menschen das Leben. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung wurde vertrieben. Parallel zum Krieg wurde auf internationaler Ebene über Friedenspläne verhandelt. Erst im Sommer 1994, als sich auch die USA eingeschaltet hatten, bekam die Nachkriegsordnung ihre endgültigen Konturen: Die sechs jugoslawischen Republiken, auch Bosnien, sollten als selbstständige Staaten in ihren Grenzen erhalten bleiben, alle Flüchtlinge zurückkehren dürfen. Fortan eroberte die kroatische Armee mit Nato-Unterstützung den besetzten Teil Kroatiens und Teile des serbisch gehaltenen Bosnien. Im November 1995 kam es zwischen den Präsidenten Bosniens, Serbiens und Kroatiens, Alija Izetbegovic, Slobodan Milosevic und Franjo Tudjman unter amerikanischem Druck in Dayton, Ohio, zum endgültigen Friedensschluss.

Dieser Artikel ist Teil einer Serie «Jugoslawienkrieg: 20 Jahre danach».

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