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Zwischen Tom Waits und Tim Toupet, zwischen Schicki-Shopping und Party vs. städtisches Schlafdorf

Chur droht zum Schlafdorf zu werden – auch wegen den Politikern und der Anwohnerschaft. Soweit die These von Chefredaktor David Sieber. Bloss, so einfach ist es nicht. Die Altstadt wurde grundfalsch umgeplant. Eine Replik aus dem Alltag eines Quartiers.

Südostschweiz
20.05.15 - 10:45 Uhr
Ereignisse

David Sieber ist mein Chef. Am Samstag hat er in der «Südostschweiz» eine Lanze gebrochen für ein Chur mit liberaleren Bestimmungen für Nachtschwärmerinnen und Nachtschwärmer. Ein Gesetz, so schreibt er, «dass es den Menschen erlaubt, die doch eher knapp bemessenen lauen Sommerabende in der ältesten Stadt der Schweiz richtig zu geniessen, wäre sicherlich angebracht».

Jedenfalls aus Sicht von einem, der oben an den Sonnenhängen der Stadt wohnt, wo das einzige nächtliche Geräusch die automatischen Bewässerungssprinkler in den Vorgärten sind. Von da oben fährt man gerne ab und zu in die lauschige Kulisse der Altstadt, um einen lustigen Abend zu verbringen. Und wenn man den Weg schon einmal unter die Räder genommen hat, man verstehts, würde man auch gerne ein wenig höcklen bleiben.

Die Toskana des Stadtgebiets

David Sieber hat gleichzeitig auch nicht recht. Ich weiss das, weil ich in der Altstadt wohne, seit 20 Jahren und übrigens sehr, sehr gern. Drum ist mir auch klar, dass sein Bild vom perfekten Abend in der Altstadt hoffnungslos romantisierend ist, ein bisschen wie unser aller Idee von der Toskana oder dem Fischerdorf in Ligurien. In Siebers Vorstellungen sitzen er und andere Stadt-Binnentouristen spätabends auf der Terrasse der Trattoria, vor sich ein Glas Barolo von Luciano Sandrone. Es wird über zeitgenössische Architektur diskutiert, über die frühen Alben von Tom Waits und über die besten Bike-Routen im Südtirol. Und zu ganz später Stunde greift am besten der lustige Wirt zur Handorgel und singt ein melancholisches Lied aus seiner fernen Heimat.

Solche Tischrunden sind wunderbar, und auch die meisten Altstadtbewohnerinnen und -bewohner, die ich kenne, würden sich viel mehr davon wünschen. In Wirklichkeit sind sie aber etwa so häufig wie Aufstiege des EHC Chur in die Nationalliga A. Die überwiegende Realität des Nachtlebens in der Altstadt sieht anders aus: eher nach Ballermann als nach Barolo, eher nach Tim Toupet als nach Tom Waits. Dagegen soll nichts gesagt sein, die Geschmäcker sind verschieden.

Die Zeit der fliegenden Tische

Die Schuld, dass Chur zum Schlafdorf verkommt, weist David Sieber nicht nur, aber auch den Anwohnerinnen und Anwohnern zu, «welche sich frühmorgens an einer einsamen Bierflasche stören». Gut gebrüllt, Löwe. Was David Sieber seit seinem Umzug aus der Mitte der Stadt in ihre Höhe offenbar vergessen hat: Während er längst dem Summen der Gartensprinkler lauscht, erwacht die Altstadt zum Leben. Nur ist da nichts mit Gesprächen über zeitgenössische Architektur – die Baukunst wird allenfalls genutzt, um Dönerreste an ihre Wände zu entsorgen oder dranzupinkeln. Statt dem melancholischen Lied des italienischen Wirts gibts schlechten Rap in Konzertlautstärke aus dem Handy, und nicht ungern wird noch der eine oder andere Gartentisch oder Blumenkübel lautstark zertrümmert.

Nicht zufällig steht Churs traditionsreichstes Velogeschäft am Rande der Altstadt. Da muss man sich ab und zu einen Reifen ersetzen lassen. Die von David Sieber zitierte «einsame Bierflasche» tritt nämlich in der Wirklichkeit lieber dutzendweise und in Scherbenform auf. Der Reifenwechsel erübrigt sich, wenn man mit dem Velo gar nicht mehr fahren kann, weil es jemand aus lauter Lebensfreude zusammengetreten hat. Oder es einfach nicht mehr da ist. Weil es jemand für den Heimweg «ausgeliehen» hat.

Das Ende der Schicki-Meile

Das Problem in Churs – eigentlich in fast jeder – Altstadt sind weder die Bewohner noch die Nachtschwärmer. Das Problem ist eine grundlegende Fehlkonstruktion, und das in Chur gleich in dreifacher Hinsicht. Die Altstadt wurde von Anfang an falsch erdacht. Bis in die Siebzigerjahre war sie das Armen- und Ausländerquartier der Stadt. Dann sollte sie rundumsaniert werden, nach einem Konzept, das städteplanerisch damals der letzte Schrei war.

Chur wollte ums Verroden erzeugen, was man inzwischen überall vermeidet: die Gentrifizierung, also die Vereinnahmung organisch gewachsener Quartiere durch eine zahlungskräftige Klientel auf Kosten der Ureinwohner. Der Plan für die Churer Altstadt war so simpel wie realitätsfern. In den Erdgeschossen sollten schicke Boutiquen entstehen, im ersten Stock gerne eine Zahnarztpraxis und darüber teure Wohnungen.

Nik Hartmann und der Western

Gedacht, gebaut, gescheitert. Die Boutiquen rentierten nicht, weil die Restchurerinnen und Restchurer sich in der Altstadt zwar bis heute gern die Lampe füllen. Wenn sie eine ebensolche brauchen, fahren sie aber in den Baumarkt am Stadtrand. Und ausserhalb des pittoresken Kauferlebnisses am Wochenmarkt ist Posten mit dem SUV auch einfacher in City West. Das führte zur heutigen Situation in der Altstadt. Oben sind immer noch die Zahnarztpraxen und teuren Wohnungen, unten aber vielfach lärmige Bars und Beizen. Was wiederum den Bewohnerinnen und Bewohnern in den oberen Stockwerken nicht gefällt.

Der zweite Fehler, der in Chur passiert, ist die Bespielung der öffentlichen Räume. Seit Jahren kämpft eine Gruppe unermüdlicher Initianten um ein Open Air auf dem Arcas. Stattgefunden hat es bis heute nicht – dafür war Chur in den letzten Jahren Schauplatz jedes erdenklichen Fests der Volkskultur. Gitarre nein, Handorgel ja – zu einer für alle lebendigen Altstadt trägt die einseitige Nik-Hartmannisierung wenig bei. Es fehlt die Breite.

Das führt uns zum dritten Punkt der stadtentwicklerischen Mängelliste, dem Angebot. Mag sein, dass die angeblich meckernden Anwohner die lauschigen Gartenbeizen verhindern. Sie sind es aber wohl kaum, die dafür sorgen, dass die Gassen der Altstadt am Sonntag leer gefegt sind. Touristinnen und Touristen, die es am Tage des Herrn nach Chur verschlägt, dürften sich fühlen wie im Westernklassiker «High Noon»: einsame Strassen, es fehlt nur das Tumbleweed.

Ein Hauch «Oberstadtgass»

Um es noch einmal zu betonen: Ich wohne seit 20 Jahren in der Altstadt, und nirgendwo würde ich lieber wohnen wollen. Ich mag die stillen Morgen, wo die Szenerie ein bisschen an Kurt Frühs «Oberstadtgass» erinnert. Ich mag die Originale, die Figuren, die Typen, die sie bevölkern. Ich amüsiere mich, wenn sich randständige Pärchen um 3 Uhr morgens vor meinem Schlafzimmerfenster anbrüllen oder eine halbe Stunde später Jugendliche im Brunnen vor der Kantonalbank planschen.

Auf all das lässt man sich mehr oder weniger gerne ein, wenn man in der Altstadt wohnt. Wobei man das Argument, dass man sich mit solcherlei abfinden muss, auch umkehren kann: Wenn Ihr das alles so toll findet, wieso wohnt Ihr dann nicht selber in der Altstadt? Zu laut? Aha. Sogar die Behörden attestieren den Einwohnerinnen und Einwohnern in der Altstadt eine hohe Toleranz.Die meisten Bewohnerinnen und Bewohner wünschen sich eine lebenswerte, vielfältige und lebendige Altstadt. Aber auch eine, wo man nicht am Sonntagmorgen erst die Kacke und Kotze vor der Tür wegwischen muss, wenn man aus dem Haus will. Eine, wo ein Velopneu auch einmal drei Jahre hält. Und sie sind sicher nicht allein schuld, falls aus Chur ein Schlafdorf wird. «Wenn ich mir die Teufel austreibe, verschwinden vielleicht auch meine Engel.» Hat Tom Waits gesagt. Früh, 1974. Und er hat Chur glaubs nicht einmal gekannt.

Die Entgegnung von Olivier Berger entstand aufgrund dieses Kommentars von Chefredaktor David Sieber in der Samstagsausgabe.

Chur ist eine wunderbare kleine Stadt. Es wäre schade, würde sie zum Schlafdorf. Spätestens seit die Churer Stadtregierung zu zwei Dritteln aus Vertretern der Gastrobranche besteht, hat sich die Situation verbessert. Die Altstadt ist nach Ladenschluss zwar noch immer kein Ort pulsierenden Lebens, doch die unheimliche Grabesruhe, die das ultrarepressive Polizei-gesetz zuvor erzwungen hatte, ist immerhin einem leicht mediterranen Flair gewichen. Und es scheint, dass auch die Jungen zufrieden sind, die 2009 und 2012 auf die Strasse gingen, damit sie ihren Döner auch nachts draussen geniessen dürfen und generell mehr Freiräume erhalten. Dass ein weiterer Liberalisierungsschritt angezeigt wäre, zeigt die Klage der Stadtpolizei, wonach sie ab dem Frühling immer häufiger Wirte büssen muss, die ihre Gäste nicht rechtzeitig aus der Gartenbeiz gewiesen haben.

Gesetz ist Gesetz. Schon klar. Aber eine etwas weichere Formulierung, die es den Menschen erlaubt, die doch eher knapp bemessenen lauen Sommerabende in der ältesten Stadt der Schweiz richtig zu geniessen, wäre sicherlich angebracht. Allerdings dürfte es eine solche Forderung schwer haben. Wie schwer, zeigen die immer wiederkehrenden Klagen von Anwohnerinnen und Anwohnern, welche sich frühmorgens an einer einsamen Bierflasche stören, an überfüllten Moloks und den angeblich unhaltbaren Zuständen im Welschdörfli, dem einzigen Ort, wo das Leben manchmal über Reglemente siegt.

Damit ist nicht gesagt, dass es nicht zu unerwünschten Exzessen kommen kann. Zu massivem Littering, Lärm und Schlägereien. Davon zeugt jeden Sonntag der Rapport der städtischen Ordnungshüter, die an den Wochenenden gut zu tun haben. Deswegen geht Chur aber sicher nicht vor die Hunde, wie es ein Leserbriefschreiber kürzlich in dieser Zeitung formulierte.

Vor die Hunde ginge Chur, wenn es sich zum städtischen Schlafdorf entwickeln würde. Will Chur eine Stadt mit Zentrumsfunktion sein, gehören attraktive Arbeitsplätze ebenso dazu wie ein vielfältiges kulturelles Angebot und eine lebendige Partymeile. Den viel beklagten Braindrain ins Unterland wird ein totes Kaff mit dem Charme einer Zürcher Agglogemeinde ganz sicher nicht stoppen können. Vieles hängt von den Churerinnen und Churern ab. Denn ihre Toleranz ist auch eine Art Wirtschaftsförderung.

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