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Wildmannli-Tafel Davos: Einblick in einen geheimnisvollen Männerabend

Einmal im Jahr versammeln sich die Wildmannli in Davos zu einem besonderen Abendessen. Wer dabei ist, trägt eine blaue «Chutta» und folgt einem streng regulierten Ablauf. Doch was steckt hinter dieser noch jungen Tradition? Ein Erlebnisbericht.

Bündner Woche
24.02.25 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Die Wildmannli-Mitglieder tragen ein spezielles Abzeichen an ihrer «Chutta», die Gäste hingegen nicht. Mit dunklem Bier stossen aber alle gerne an.
Die Wildmannli-Mitglieder tragen ein spezielles Abzeichen an ihrer «Chutta», die Gäste hingegen nicht. Mit dunklem Bier stossen aber alle gerne an.
Manuel Kurth

Von Andri Dürst

Ich streife mir die blaue «Senna-Chutta» über und betrachte mich im Spiegel. Sitzt das Kleidungsstück? Und steht der Kragen des weissen Hemdes, das ich darunter trage, korrekt? Ich kann die Fragen zwar mit Ja beantworten, komme mir aber etwas albern vor. Und so ziehe ich schnell wieder den Reissverschluss meiner Jacke zu, damit mich auf der Strasse niemand in dieser Kluft sieht. Doch eigentlich müsste ich mich nicht schämen, denn in wenigen Minuten treffe ich eine riesige Schar Herren, die ähnlich angezogen sind wie ich. Nun watschle ich die vereiste Strasse hinunter zum Treffpunkt. Doch um was geht es eigentlich?

Ich bin eingeladen an die Wildmannli-Tafel in Davos – einen der wohl aussergewöhnlichsten Anlässe in der Region. Denn der Ablauf des Abends richtet sich nach einem strikten Zeitplan. Doch auch wenn der Anlass altertümlich anmutet, so wurde er erst 2014 das erste Mal durchgeführt. Organisiert wird er von der «Wildmannli Tafel uf Tafaas», einem Verein, der sich in den Bereichen Soziales und Kultur engagiert sowie Visionen für die Region Davos/Klosters ausarbeitet. Der Name nimmt Bezug auf eine bekannte Sagengestalt, die insbesondere im Raum Prättigau-Davos noch stark präsent ist. Ein «urchiges Mannli», kräftig, einzelgängerisch, stark behaart und nur mit Moos oder Laub bekleidet – so, wie es beispielsweise auf dem Klosterser Wappen noch immer zu sehen ist. Ob auch in den Besuchern der Wildmannli-Tafel noch etwas von diesem Urmenschen steckt? Wir werden sehen. Auf jeden Fall ist das Spannungsfeld der Wildmannli-Tafel interessant: historische Kleider und traditonelle Rituale treffen auf zukunftsgerichtete Gedanken.

Angeregt Diskutieren: Das ist wohl der rote Faden der Wildmannli-Tafel.
Angeregt Diskutieren: Das ist wohl der rote Faden der Wildmannli-Tafel.
Manuel Kurth

Streng vorgegebener Ablauf

Das bevorstehende Essen, das stets am ersten Freitag im Februar stattfindet, ist jeweils der Höhepunkt des Vereinslebens. Eingeladen sind nicht nur die Mitglieder, die sogenannten Wildmannli, selbst. Sie können jeweils einen Herrn ihrer Wahl mitnehmen. Auch die Gäste haben im Tenue «Chutta» zu erscheinen. So wie eben auch ich.

Mittlerweile habe ich meine Jacke an der Garderobe abgegeben und mische mich unter die Leute. Es ist ohrenbetäubend laut im Apéro-Raum des Sporthotels Central, wo der Anlass stattfindet und bereits heftig diskutiert wird. Schon bald sehe ich ein paar bekannte Gesichter. Ich hole mir ein Bier und stosse mit ihnen an. Man kommt schnell ins Gespräch, redet über Privates, Geschäftliches oder über das, was gerade so in Davos läuft. Dann, um 19.15 Uhr, erklingt das Geläut einer Kuhglocke. Das ist das Zeichen, dass wir uns in den Speisesaal begeben sollen. Und so trottet die ganze Meute in den grossen Saal, an dem zahlreiche runde Tische stehen. Mir wurde der Tisch «Clavadel» zugewiesen (dies ist der Name einer kleinen Siedlung nahe Davos Frauenkirch). Und tatsächlich, auf dem Tisch steht mein Name. Ich schaue mir die anderen Täfelchen an. Da klopft mir einer von hinten auf die Schulter. «Hoi, Andri!» Es ist der Tischherr des heutigen Abends, der mich sogleich herzlich begrüsst. Wir kennen uns bereits von einer früheren Wildmannli-Tafel.

Bald treffen die anderen Mitglieder unseres Tisches ein (gemäss Plan um 19.23 Uhr). Absitzen darf man aber noch nicht, sondern man muss hinter dem Stuhl stehen bleiben (auf 19.27 Uhr traktandiert). Punkt 19.30 Uhr ertönt wieder eine Glocke und unser Tischherr bittet uns mit einem Handzeichen, Platz zu nehmen. Am Rednerpult steht nun ein Mann. Es ist Marco Meyer, der Wildmannli-Sprecher. Seine Ansprache ist zwar trocken vorgetragen, aber dennoch anregend. Er gibt den Anwesenden einige aktuelle Gedanken mit auf den Weg und eröffnet die Tafel.

Das gepflegte Tischgespräch zelebrieren: Dafür steht die Wildmannli-Tafel, die es bereits seit rund zehn Jahren gibt.
Das gepflegte Tischgespräch zelebrieren: Dafür steht die Wildmannli-Tafel, die es bereits seit rund zehn Jahren gibt.
Manuel Kurth

Nun beginnen die Tischgespräche. Unser Tischherr schlägt vor, dass wir uns kurz vorstellen. Schnell wird klar: Hier sitzt eine interessante Runde am Tisch. Vom international tätigen Manager über den chirurgischen Orthopäden bis hin zum lokalen Bauern – die verschiedensten Männer kommen hier zusammen. Und genau dies ist das Ziel der Wildmannli-Tafel. So steht dazu auf der Internetseite des Vereins: «An der Wildmannli-Tafel gibt es nur eine Regel: Jeder ist während des ganzen Anlasses von drei Stunden an Stuhl und Tisch gebunden; dies bedingt automatisch, sich am Tisch mit den acht bis zehn Teilnehmern einbringen, diskutieren und sich am Anlass mit den Wildmannli und Gästen erfreuen.» Nachdem wir mit der ersten Runde Wein angestossen haben, wird auch schon bald der erste Gang serviert. Wer nun denkt, dass angesichts der illustren Gästeschar Schickimicki-Essen kredenzt wird, irrt. Es ist ein einfaches Mahl, jedes Jahr das gleiche. «Tafaaser Suppa», «Chruutchräpfli», «Beckibrate».

Ranghohe Politiker kommen zu Wort

Doch das ist noch nicht alles: Zu jeder Wildmannli-Tafel wird ein prominenter Gast eingeladen, der über ein aktuelles Thema referiert. In den letzten Jahren konnten stets Regierungsräte aus anderen Kantonen als Referenten gewonnen werden. Auch diesmal ist dies der Fall: Der Aargauer Mitte-Politiker Markus Dieth unterhält zwischen zwei Gängen die Menge mit einer kurzweiligen Rede. Dieth, der selber in Davos aufgewachsen war, hatte so fast eine Art Heimspiel. Wie die Organisatoren schlägt auch er den Bogen von den historischen Wildmannli zur heutigen Zeit. Seine Zeitgenossen, die Walser, hätten viele Eigenschaften migebracht, die heute noch von Nutzen seien, so Markus Dieth.

Gastreferent Markus Dieth (Mitte) flankiert von Wildmannli-Schreiber Patrik Wagner (links) und Wildmannli-Sprecher Marco Meyer.
Gastreferent Markus Dieth (Mitte) flankiert von Wildmannli-Schreiber Patrik Wagner (links) und Wildmannli-Sprecher Marco Meyer.
Manuel Kurth

Eigentlich hätte ich nach dem Essen noch länger am Tisch sitzen können, aber der Wildmannli-Sprecher tritt nun – 23.12 Uhr – wieder ans Mikrofon. Er spricht einen Dank aus und beendet die Tafel. Die Saaltüren werden Punkt 23.15 Uhr wieder geöffnet. Einige der Herren verlassen das Hotel sogleich, um schnell nach Hause zu kommen. Mich zieht es aber nochmals in den Apéro-Raum, wo noch ein Schlummertrunk veranstaltet wird. Einige Wildmannli beschliessen, noch etwas um die Häuser zu ziehen. «Wenn wir schon einmal so hübsch angezogen sind», meinen sie scherzhaft. Ich selber mache mich aber auf den Nachhauseweg. Nun ist es auch Zeit, das «Chuttali» auszuziehen. Dabei habe ich mich langsam wirklich wohlgefühlt in diesem Kleid. Doch auch wenn ich für einen Abend lang ein «wilder Mann» war: Es ging sehr gesittet und zahm zu und her. Und so stellt sich die Frage, wieso die Frauen der Schöpfung nicht zu diesem Anlass zugelassen sind. Wildmannli-Gründer und -Sprecher Patrik Wagner äussert sich in der nebenstehenden Box knapp zu dieser Frage. Diskutieren könnte man darüber stundenlang – sowohl unter Männern als auch unter Frauen.

www.wildmannlitafel.ch

Nachgefragt bei Wildmannli-Schreiber Patrik Wagner

Die «Wildmannli Tafel uf Tafaas» gibt es nun schon seit über zehn Jahren. Was konnte der Verein bislang konkret erreichen?
Wir haben neue Ideen gerade im Hinblick auf Gastfreundschaft, Seegestaltung und Verkehr eingebracht. Wir wollten die Diskussion anregen. Wir sind eine Denkfabrik, die sich um die Zukunft in Davos und Klosters sorgt. Wir denken in Zeiträumen über die nächsten 10, 20 Jahre hinaus. Gerade das Thema Verkehr mit Förderung des ÖV, der Verkehrsberuhigung innerorts, dem Abfangen des anfahrenden Privatverkehrs vor der Stadt und die Installation einer S-Bahn Laret–Wolfgang–Strandbad–Dorf–Kongress–Eisstadion–Platz bis Wiesen wird Davos noch mehr beschäftigen müssen.

Die Tafel im Februar gilt als Höhepunkt des Vereinslebens. Wieso ist gerade dieser Anlass so wichtig und was zeichnet ihn aus?
Jedes Wildmannli darf einen Gast einladen. Es wird das Gespräch gesucht, Ideen gesammelt und das Gesellschaftliche mit einem interessanten Referat gepflegt.

Immer mal wieder kommt Kritik auf, dass bei den Wildmannli keine Frauen zugelassen sind. Was sagen Sie zu diesem Vorwurf?
Unser Name sagt alles.

Was möchten Sie mit dem Verein in Zukunft noch erreichen?
Unsere Denkanstösse sollen aufgenommen, diskutiert, angepasst und zum Wohl von Davos-Klosters verbessert und in irgendeiner Form umgesetzt werden.

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