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Wenn die Sehnsucht zum Stress wird: Tipps für mehr Besinnlichkeit und Genuss

Weihnachten kann stressig sein – wieso bewusste Achtsamkeit Abhilfe schaffen kann und dies nicht nur in der Adventszeit ein Wundermittel ist, verrät Achtsamkeits-Lehrerin Kirstin Lorenzen.

Bündner Woche
07.12.24 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Kirstin Lorenzen ist nach ihrer Pensionierung als Achtsamkeits-Lehrerin tätig geworden.
Kirstin Lorenzen ist nach ihrer Pensionierung als Achtsamkeits-Lehrerin tätig geworden.
Andri Dürst

von Andri Dürst

«Wonderful Christmas Time», «It's the Most Wonderful Time of the Year», «Wonderful Dream» – es gibt viele Weihnachtslieder, die eine wundervolle Zeit ankündigen. Doch wie gut lässt sich die Adventszeit wirklich geniessen? Sind viele Menschen nicht gerade in dieser Periode gefangen in Stress, Hektik und Leistungsdruck? Diesem vermeintlichen Widerspruch wollen wir nachgehen. Dazu nehmen wir Kontakt mit Kirstin Lorenzen auf. Sie leitet Achtsamkeits-Workshops unter anderem an der Klubschule in Chur und ist seit zehn Jahren MBSR-Lehrerin (MBSR steht für Mindfulness-Based Stress Reduction, zu Deutsch achtsamkeitsbasierte Stressreduktion). Zum Termin im Medienhaus erscheint sie frühzeitig – so habe sie sich in Ruhe nochmals auf das Gespräch vorbereiten können, sagt sie bei der Begrüssung. Das Interview beginnt dann auch nicht sofort mit einer Einstiegsfrage, sondern mit einem Moment der Achtsamkeit. Kirstin Lorenzen nimmt zwei metallene Scheiben hervor und schlägt sie sanft zusammen. Mit dem Klang dieser Zimbeln lassen wir einen Moment Ruhe in uns einkehren und atmen ganz bewusst. So schnell kann man aus der Hektik des Alltags ausbrechen. Respektive dorthinkommen, wo wir eigentlich sind. Den Moment geniessen – das scheint der rote Faden dieses Gespräch zu werden.

Einen Moment der Ruhe: Der Klang der Zimbeln und bewusstes Atmen führen schnell zu Entspannung.
Einen Moment der Ruhe: Der Klang der Zimbeln und bewusstes Atmen führen schnell zu Entspannung.
Andri Dürst

Wo die Quellen des Stress liegen

Dass viele Leute gerade in der Weihnachtszeit dieses Prinzip – ohne es zu wollen – missachten, sieht auch die gebürtige Deutsche. «Die Weihnachtszeit ist eine Zeit, in der wir das Gefühl haben, dass es gut werden soll. Viele Menschen sind jedoch gestresst, da sie viele Erwartungen haben.» Wenn man gedanklich nur im Konjunktiv ist, kann man – und das erscheint logisch – den Moment viel weniger geniessen. Hätte, könnte, müsste. Doch die Sehnsucht bezieht sich nicht bloss auf die Zukunft, sondern zuweilen auch auf die Vergangenheit. Auch dies ist aus Sicht von Kirstin Lorenzen ein Stressfaktor. «Wenn wir an negative Sachen zurückdenken und vielleicht sogar jemandem die Schuld für eine Misere geben, werden wir in diese negative Erfahrung zurückversetzt. Das verursacht Stress.»

Weihnachten mit allen Sinnen erleben

Zurück zu Weihnachten. Eigentlich eine ideale Zeit, um sie bewusst zu geniessen und gedanklich weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft zu verharren. «In Zusammenhang mit der Adventszeit spricht man ja oft von Besinnlichkeit. Darin steckt das Wort ‹Sinn›. Deshalb sollten wir die Zeit auch mit allen Sinnen wahrnehmen.» Der Geschmack von Lebkuchen, der Duft von Zimt, der Klang von Weihnachtsmusik oder der Anblick einer hübschen Dekoration – all dies kann man intensiv wahrnehmen. In diesem Zusammenhang lassen sich auch zwei Tipps der Achtsamkeitslehrerin gut anwenden. «Vielen Leuten empfehle ich, mal bewusst zu essen. Das Handy weglegen und sich voll und ganz auf die Speisen zu fokussieren und sie mit allen Sinnen wahrzunehmen. Man kann sich auch mal darüber Gedanken machen, wer alles dazu beigetragen hat, dass dieses Essen auf dem Tisch steht: Vom Bauern über die Lageristin, die Verkäuferin bis hin zum Chauffeur.» Aber auch Pausen, am besten an der frischen Luft mit dem bewussten Genuss eines Kaffees oder Tees werden empfohlen.

Was sich hier noch einfach anhört, ist im Alltag aber oft gar nicht so leicht umzusetzen. Kirstin Lorenzen rät, Aktivitäten, die uns guttun, in den Alltag zu integrieren. «Und was sich auch lohnt: sich in Dankbarkeit zu üben. Die vielen Selbstverständlichkeiten sollten mehr wertgeschätzt werden: Dass das Auto am Morgen anspringt, dass warmes Wasser aus dem Hahn kommt, oder dass uns eine Person bei irgendetwas hilft.»

Auf Achtsamkeit fokussiert: Kirstin Lorenzen hat diverse Kurse besucht und leitet nun selber Workshops.
Auf Achtsamkeit fokussiert: Kirstin Lorenzen hat diverse Kurse besucht und leitet nun selber Workshops.
Andri Dürst

Tradition und Veränderung: der Stress im Wandel der Zeit

Dass Weihnachten weniger stressig werden soll, lässt sich bereits an verschiedenen Phänomenen in unserer Gesellschaft feststellen. So erfährt beispielsweise das Prinzip des Wichtelns immer mehr Popularität. Anstatt dass man die ganze Familie beschenkt, wird per Los ein einzelnes Familienmitglied bestimmt, dem man dann ein Präsent überreicht. «Das kann für die Person, die schenkt, Druck wegnehmen. Im Gegenzug kann die beschenkte Person das einzelne Geschenk auch viel mehr wertschätzen, als wenn sie zehn Päckchen unter dem Weihnachtsbaum hat.» Die MBSR-Kursleiterin findet Wichteln deshalb eine tolle Idee. Auch sehr offen steht sie individuellen Wünschen nach anderen Formen des Weihnachten-Feierns gegenüber. «Wenn beispielsweise jemand über die Festtage verreisen möchte, sollte man diesen Menschen diese Freiheit lassen.»

Waren Weihnachten früher eigentlich auch schon so stressig wie heute? Kirstin Lorenzen – sie hat Jahrgang 1958 – blickt zurück. «Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen. Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, stelle ich fest, dass früher hinter all den Vorbereitungen noch viel mehr Arbeit steckte: Die Festtagskleider wurden selber genäht oder die Kekse noch selber gebacken.» So habe der Weihnachtsstress nicht einmal gross nachgelassen, er habe sich einfach verändert. «Heute müssen wir beispielsweise aus einer riesigen Auswahl von Geschenken das Richtige finden. Und oftmals wird das Präsent auch viel kritischer betrachtet als früher.» Auch hier spielt wieder die Sehnsucht mit rein: Wäre es nicht noch schöner, besser, grösser gegangen? Sie appelliert nochmals an die Wertschätzung, die man wieder vermehrt praktizieren sollte.

Doch auch wenn dies alles positiv klingt: Kirstin Lorenzen ist sich durchaus bewusst, dass nicht immer Friede, Freude, Eierkuchen herrschen kann. «Das ist wie beim Wetter, es gibt nicht nur Sonnenschein, sondern auch mal Regen und Gewitter.» Wichtig sei ein kluger Umgang mit den Aufs und Abs im Leben. «Bei der Achtsamkeit geht es darum, den Moment wahrzunehmen und anzunehmen, wie er ist, ohne zu urteilen, zu interpretieren oder etwas anders haben zu wollen. Darum, uns von auftauchenden Widerständen zu lösen und dann das machen können, was ohne unnötigen Energieverlust erforderlich ist.»

Kirstin Lorenzen (www.achtsamkeit-in-praxis.ch) und Lucina Lanfranchi (www.lucina-lanfranchi.ch) bieten MBSR- und Achtsamkeitskurse an.

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