×

Tante am Klavier und Sexfilme im Programm: Aufstieg und Niedergang des Kinos in Schwanden

Vor bald 100 Jahren entstand an der Bahnhofstrasse in Schwanden ein Kino. Ältere Einwohnende erinnern sich noch gut daran – auch an die heissen Streifen, die dort in späteren Jahren liefen.

Südostschweiz
27.08.23 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Als «Filmriss» noch wörtlich zu verstehen war: Kinooperateur Rolf Kundert schaut im Projektorraum des Kinos in Schwanden zum Rechten.
Als «Filmriss» noch wörtlich zu verstehen war: Kinooperateur Rolf Kundert schaut im Projektorraum des Kinos in Schwanden zum Rechten.
Archivbild

von Martin Leutenegger

Wenn Kurt Jenny, Enkel des Kinogründers Heinrich Jenny-Fehr, in die grosse Kiste mit den alten Dokumenten greift, kommen interessante Zeugnisse der Glarner Kinogeschichte zum Vorschein: Verträge, Jahrbücher, Programme, Druckstöcke und Fotos.

Im Jahr 1919 wurde die Glarner Lichtspieltheater AG mit einem ersten Kino in der Stadt Glarus gegründet. In den folgenden Jahren zeigte sich, dass «Lichtspielvorführungen nicht mehr nur das Theater des kleinen Mannes bedeuten, sondern für alle Kreise ein Bedürfnis geworden sind». So steht es im Prospekt zur «Gründung eines Lichtspieltheaters in Schwanden» vom 29. April 1929. Begründet wurde der Optimismus für die Eröffnung eines zweiten Kinos mit der aufstrebenden Grösse von Schwanden, dem industriellen Aufschwung und der Bedeutung für das Glarner Hinterland. Insbesondere rechnete man für die folgenden Jahre mit einem «Zuzug mehrerer hundert auswärtiger Arbeitskräfte».

Ein Lichtspieltheater für Schwanden: An der Bahnhofstrasse entsteht «ein geschmackvoll präsentierender Bau am besten Platz mit zwei geräumigen Wohnungen und einem Saal mit einer kleinen Bühne».
Ein Lichtspieltheater für Schwanden: An der Bahnhofstrasse entsteht «ein geschmackvoll präsentierender Bau am besten Platz mit zwei geräumigen Wohnungen und einem Saal mit einer kleinen Bühne».
Pressebild

Geplant war «ein geschmackvoll präsentierender Bau am besten Bauplatz in Schwanden, mit zwei geräumigen Wohnungen und einem Saal mit einer kleinen Bühne». Dem Publikum sollten 230 Sitzplätze sowie 90 Fauteuils auf dem Balkon zur Verfügung stehen. Betriebsleiter würde der 1884 geborene Heinrich Jenny-Fehr, der schon seit zehn Jahren das Kino in Glarus erfolgreich führte.

Die Familie am Klavier während der Stummfilmzeit

Der Grossvater des heutigen Hausbesitzers war nicht nur Geschäftsmann, sondern auch bekannt als Mitwirkender in Laientheatern und als Autor von Bühnenstücken. Ab 1927 verfasste er, zusammen mit Kaspar Freuler, zahlreiche Schwänke in Mundart. Diese wurden auch auf der Theaterbühne in Schwanden aufgeführt. Noch heute erhält sein Enkel Kurt Jenny gelegentlich Tantiemen für die aufgeführten Werke seines Grossvaters.

Die ersten Betriebsjahre waren ausserdem geprägt durch die Zeit der Stummfilme. Damit das Publikum auch etwas «auf die Ohren» bekam, begleiteten Heinrich Jenny jun. und seine Schwester – die in Paris Musik studiert hatte – die Vorstellungen auf dem Klavier.

Vorhang auf: 230 Besuchende finden im Saal des Schwander Kinos Platz. Dazu kommen 90 Fauteuils auf dem Balkon.
Vorhang auf: 230 Besuchende finden im Saal des Schwander Kinos Platz. Dazu kommen 90 Fauteuils auf dem Balkon.
Archivbild

Wer in den handschriftlich geführten Jahrbüchern aus den Vierzigerjahren blättert, in denen alle Vorführungen in Glarus und Schwanden fein säuberlich aufgeführt sind, staunt über die detaillierten Angaben zum jeweiligen Programm sowie zu den Einnahmen und Ausgaben.

«Sieht schon wuchtig aus, man muss aber den Kopf immer drehen»

Ab dem Geschäftsjahr 1953/54 finden sich in der Kiste mit den Dokumenten auch die regelmässigen Jahresberichte. «Grössere finanzielle Erfolge», wurde beispielsweise 1954 vermerkt, «brachten Filme wie ‹Im weissen Rössel›, ‹Don Camillos Rückkehr› oder die vierstündige Literaturverfilmung ‹Vom Winde verweht›.» Allerdings gab es auch Grund für Sorgenfalten: «Die immer zahlreicher werdenden Feste und die immer mehr aufkommenden Fahrten ans Mittelmeer machen sich besonders zur Sommerzeit in den Kinotheatern stark bemerkbar.»

Auch mit der Technik musste Schritt gehalten werden. Weil in Nordamerika das Fernsehen zu einer immer grösseren Konkurrenz für die Lichtspieltheater werde, würden in den USA «grosse Anstrengungen gemacht, um die Bildgrösse bei Kinovorführungen stark zu steigern». Inzwischen gebe es fünf verschiedene Systeme von Breitband- oder Panorama-Formaten, und es sei nicht bekannt, welches sich am Ende durchsetzen werde, auch laufe ein Kinobetreiber in Gefahr, dass eine teure neue Anschaffung bereits nach einem Jahr schon veraltet sei. Allerdings: Das stark verbreiterte Bild, zum Beispiel beim Cinemascope-Verfahren; «sieht schon wuchtig aus, kann aber kaum ganz gesehen werden, ohne dass man den Kopf immer hin und her drehen muss».

«Das Fernsehen hat keine grossen Wellen geworfen»

Die Fortschritte in der technischen Entwicklung blieben auch in den folgenden Jahren ein Thema. Die Breitbild-Filme würden zwar von den grossen Verleihern «nach Kräften gefördert, doch die mittleren und kleineren Theater sind davon gar nicht begeistert». Die Stimmung war 1955 jedoch positiv: Noch seien «genügend gute Filme im Normalformat greifbar». Auch habe «das Fernsehen in der Schweiz noch keine grossen Wellen geworfen und für die TV-Vorführungen in Wirtshäusern zeigt das Publikum in unserer Gegend kein grosses Interesse: Die Wirtschaften, die ihren Gästen Fernsehen zeigen, sind nur schwach besetzt und verärgern in erster Linie die Stammtisch-Jasser.»

Aller Schwierigkeiten zum Trotz wurde auch das Geschäftsjahr 1956/57 als «sehr gut» bezeichnet. Aussergewöhnliche Einnahmen erzielten deutschsprachige Filme wie «Oberstadtgass» oder «Drei Männer im Schnee», doch «in erster Linie brachten italienische Filme, die in vermehrtem Masse ins Programm aufgenommen wurden, sehr gute Einnahmen». Wegen der zahlreichen Arbeitskräfte aus Italien war es für die Kinos Glarus und Schwanden sogar rentabel, solche Filme im Original und teilweise ohne Untertitel zu zeigen.

Heisse Streifen für Minderjährige

Nach dem Tod des Kinogründers Heinrich Jenny im November 1962 übernahm sein Sohn gleichen Namens die beiden Lichtspieltheater. Weitere zehn Jahre später waren die Enkel an der Reihe: Die Brüder Kurt und Jürg leiteten die Kinos in Glarus und Schwanden gemeinsam. Mittlerweile aber schien die Hoch-Zeit der Lichtspieltheater vorbei zu sein, und es machten sich die gleichen Probleme bemerkbar, von denen in der Schweiz die ganze Kinolandschaft betroffen war. Hinzu kam, so Kurt Jenny, «dass wir die einzigen Kinos im Kanton betrieben und uns gegenseitig konkurrenzierten. Wenn in Glarus ein guter Film lief, hatten wir in Schwanden ein leeres Haus.»

Kurt Jenny entschied sich für einen Weg, den in der Schweiz auch andere Kinobesitzer gewählt hatten: weg von den hochstehenden Unterhaltungs- und Kulturfilmen, hin zu Italowestern oder – vor allem – Sexfilmen. Daran können sich selbst jüngere Menschen noch knapp erinnern: Sie wisse noch gut, so eine Einwohnerin, wie sie von ihrer Mutter jeweils an der Hand schnell am Kinogebäude vorbeigezogen worden sei, damit sie keinen Blick auf die nackten Frauen in den Aushängen werfen könne. Der Schwander Oldtimer-Spezialist Jürg Knobel weiss zwar noch, dass er als 14-Jähriger im Rahmen einer Schulvorführung einen Dokumentarfilm über Tiere in Afrika gesehen habe. «Woran ich mich aber viel besser erinnere, ist, dass wir – noch längst nicht 18 Jahre alt – ins Nachtprogramm eingelassen wurden, um ‹Josefine Mutzenbacher› und andere heisse Streifen zu schauen.»

Schlüpfriges Nachtprogramm: Filme wie «Josefine Mutzenbacher» locken viele Besucher ins Kino – die längst nicht alle schon 18 Jahre alt sind.
Schlüpfriges Nachtprogramm: Filme wie «Josefine Mutzenbacher» locken viele Besucher ins Kino – die längst nicht alle schon 18 Jahre alt sind.
Pressebild

Schwärmen von der «guten alten Zeit»

Auch Erwin Brandenberger – der Mann, dem Nachtschwärmer weit nach Mitternacht auf seinen regelmässigen Fussmärschen von Sool über Mitlödi und Schwanden bis mindestens nach Haslen-Nidfurn und zurück begegnen können –, auch er war mit einem Kollegen gelegentlich interessiert an besagtem «Nachtprogramm für Erwachsene». Er erinnert sich auch daran, dass viele die Vorstellung vorzeitig verlassen mussten, weil nach 22 Uhr kein Zug mehr ins Hinterland fuhr. Wahrscheinlich nicht nur ihm ist vor allem in Erinnerung geblieben, dass seine Guggenmusik-Clique einmal lautstark eine Filmvorführung störte, «was natürlich nicht für alle erbaulich war».

Stefano Iacono besuchte eine der letzten Vorstellungen, bevor das Kino Schwanden seine Tore für immer schloss. Es werde Anfang Achtzigerjahre gewesen sein, erinnert er sich, als er dort als Jugendlicher den Film «E.T.» von Steven Spielberg gesehen habe. Noch weiter zurück reicht die Erinnerung des bekannten Schriftstellers Emil Zopfi: Er hat sein Kinoerlebnis anlässlich eines Verwandtenbesuchs in Schwanden im Sommer 1951 sogar literarisch verarbeitet: «Kein Fernsehen gabs, kein Video und keine Disco, nur einmal den Film ‹Lassie› im Kino beim Bahnhof. Ich bin wohl schon so alt geworden, dass ich mich nur noch an das Schöne erinnern will und von der ‹guten alten Zeit› schwärme, obwohl ich genau weiss, dass sie nicht viel besser war, einfach anders.»

Von der Glarner Kinokette bleibt nur Näfels

Im Jahr 1984 trennten sich die Enkel des Kinogründers geschäftlich: Jürg Jenny übernahm das Kino Glarus und kaufte zudem das Lichtspieltheater in Näfels. In Glarus kam das Aus vor etwa 15 Jahren, das Gebäude wurde 2018 abgerissen – nachdem das Kino nochmals für einen Abend für eine allerletzte Kinovorführung geöffnet wurde.In Näfels ist das Kino noch heute in Betrieb. Lange blieb es das einzige im Kanton, allerdings wird es heute durch die 2019 eröffnete Arena Cinemas Netstal stark konkurrenziert. Kurt Jenny baute das Kino Schwanden zu einem Mehrfamilienhaus mit sechs zusätzlichen Wohnungen um. Einiges am Gebäude ist noch so erhalten, wie es früher einmal war, zum Beispiel der obere Treppenaufgang, der Notausgang oder auch die beiden Wohnungen im zweiten Stock, wo früher der Kinogründer sowie der Vater und die musikalische Tante des Besitzers gelebt hatten. Auf der Nordseite, mit dem kleinen Balkon, wohnt heute der Autor dieses Artikels. (lem)

Kommentieren
Wir bitten um euer Verständnis, dass der Zugang zu den Kommentaren unseren Abonnenten vorbehalten ist. Registriere dich und erhalte Zugriff auf mehr Artikel oder erhalte unlimitierter Zugang zu allen Inhalten, indem du dich für eines unserer digitalen Abos entscheidest.
Könnte euch auch interessieren
Mehr zu Leben & Freizeit MEHR