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So ist der Alltag bei der Spitex Chur

Stützstrümpfe mit Reissverschluss: Wir sind unterwegs mit der Spitex Chur.

Bündner Woche
15.04.24 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Geduldig: Alessia Biundo wechselt sorgfältig den Verband.
Geduldig: Alessia Biundo wechselt sorgfältig den Verband.
Bild Jasmin Klucker

von Jasmin Klucker

Kaffeeduft strömt in den Aufzug, als ein älterer Herr dazusteigt. Alessia Biundo steht mit einem grossen Spitex-Rucksack im Lift – bereit für einen Besuch von vielen an diesem Tag. In der Wohnung stehen Bilderrahmen mit Fotos darin. Sie erzählen Geschichten, die Jahre zurückliegen, aber so ein wenig weiterleben. Bilder mit Enkeln und Familie, die einem entgegenlächeln. Die Vorhänge sind noch geschlossen und nur ein schmaler Spalt lässt das Tageslicht in die Wohnung dringen. Ruhe erfüllt den Raum, nur der Sekundenzeiger der Wanduhr ist zu hören. Der Herr aus dem Aufzug nimmt auf dem beigefarbenen Sofa in seinem Wohnzimmer Platz. Es ist Zeit für die Stützstrümpfe. Momentan ist das das Einzige, bei dem der ältere Herr Hilfe benötigt. Sorgfältig zieht Alessia Biundo sie über sein Bein. Jetzt kann der Tag richtig beginnen. Ohne die Arbeit des Spitex-Teams wäre es dem Senior nicht mehr möglich, alleine zu leben. Ein kurzer Besuch mit wenigen Worten, aber diese sind von grosser Bedeutung.

Nach einer herzlichen Verabschiedung fällt die Tür ins Schloss. Auf dem Bildschirm von Alessia Biundos Handy öffnet sich eine Liste, in die nach jedem Besuch die Zeit eingetragen und gegebenenfalls andere Anmerkungen gemacht werden. «Wirklich gut, um den Überblick zu behalten», kommentiert sie. Die heutige Tour ist Alessia Biundo jedoch schon ohne Liste bekannt. Neben den vielen pflegerischen Arbeiten ist sie unter anderem für die Einteilung und Planung der Touren zuständig. Bei der Planung werden die verschiedenen Quartierfarben Rot, Blau, Grün und Gelb berücksichtigt. Die Menschen in diesen Quartieren werden von den Quartierteams betreut. Dazu gehören neben Pflegenden auch Teams aus anderen Bereichen: Demenz-Team (Memory), psychiatrisches Team (APP) und das Hauswirtschaftsteam, das für Sauberkeit in den Wohnungen sorgt.


Grosse Dankbarkeit
 

Der heutige Tag ist etwas kälter als die vorherigen Tage, feine Tropfen fallen vom bewölkten Himmel auf die Scheibe des kleinen Spitex-Autos. Es wird für weitere Strecken benötigt, wie heute für einen Patienten, der mit seiner Frau in einem schönen Holzhaus in Maladers lebt. Seit Anfang Oktober hilft die Spitex dem Mann. Eine echte Last, die von den Schultern der Frau fällt. Wie bei vielen älteren Menschen wird die Pflege des Partners respektive der Partnerin zu einer echten Herausforderung. Ein Grund für viele Spitex-Besuche. Die Dankbarkeit, auch in Zukunft in der gewohnten, sicheren Umgebung leben zu dürfen, ist gross.

Nach dem Waschen von Haaren und Körper werden ebenso vorsichtig wie zuvor die Stützstrümpfe angezogen. Eine Tätigkeit, die heute nicht zum letzten Mal ausgeführt wird. Beim Abschied macht sich die Dankbarkeit erneut bemerkbar. Alessia Biundo war offensichtlich nicht zum ersten Mal hier zu Besuch. Die Pflegenden teilen sich so ein, dass ihre Klientinnen und Klienten sich nicht immer wieder an neue Gesichter gewöhnen müssen. Das gelingt nicht immer. Wenn eine Frau lieber von einer Frau betreut werden möchte oder ein Mann von einem Mann, wird das jedoch immer berücksichtigt. So entstehen immer wieder neue Begegnungen, die manchmal sehr prägend sein können, so Alessia Biundo. «Es braucht eine gewisse Vertrautheit, jedoch immer mit einem gesunden Abstand. Professionalität ist das Wichtigste, ohne das geht es nicht.» Jedoch haben alle, die bei der Spitex arbeiten, eine andere Art und Weise, wie er oder sie mit diesen Begegnungen umgeht.

Das Wetter zeigt sich langsam von der freundlicheren Seite, feine Sonnenstrahlen scheinen in die Gassen der Altstadt. Neben einem Brunnen wird das Auto geparkt, wenige Schritte von einem lauschigen Platz entfernt, steht der nächste Besuch auf der Liste von Alessia Biundo an. Sie arbeitet seit drei Jahren bei der Spitex Chur. «Schöne drei Jahre, es gefällt mir», sagt sie. Die Arbeit mit Menschen war schon immer ihr Ding. Im dritten Stock steht eine ältere Dame in einem farbenfrohen Kleid lachend im Türrahmen. Neben ihr steht ein Rollator, auf dem ein grosser weisser Zettel mit verschiedenen Zahlen geklebt ist. Alessia Biundo besucht die ältere Frau schon eine ganze Weile, das Vertrauen zu ihr ist deutlich sichtbar. Es bereitet beiden Frauen grosse Freude, sich mit ein paar Worten auszutauschen. «Man ist oft alleine», erklärt die Klientin. Das Alleinsein ist etwas, das viele ältere Menschen betrifft, die noch in ihrem Zuhause leben. Das Telefon klingelt mit einem aussergewöhnlich lauten Ton aus der anderen Ecke des Raumes. Alessia Biundo reicht der Dame das Telefon mit den Tastenzahlen, die auf dem Rollator vermerkt sind. Die Enkelin hat angerufen – «Das macht sie jeden Tag», teilt die Dame mit. Die Fachperson reibt ihr nach einem warmen Fussbad Füsse und Beine mit einer feuchtigkeitsspendenden Salbe ein. Etwas, das alleine nicht mehr geht, obwohl sie noch selbst kocht. «Die Spitex ist ein Glücksfall, so kann ich noch in meinen eigenen vier Wänden leben.» Die eigenen vier Wände. Ein Ort, wo sich die ältere Dame sicher und wohl fühlt. Und das schon seit über 40 Jahren. 

Die Arbeit bei der Spitex erfordert ein gesundes Verhältnis von Nähe und Distanz.
Die Arbeit bei der Spitex erfordert ein gesundes Verhältnis von Nähe und Distanz.
Jasmin Klucker
Auch das Überwachen der Vitalfunktionen gehört zur Aufgabe von Alessia Biundo.
Auch das Überwachen der Vitalfunktionen gehört zur Aufgabe von Alessia Biundo.
Jasmin Klucker

Die Beine sind frisch verbunden, sodass der Verband bis zum nächsten Spitex-Besuch hält. Stützstrümpfe dürfen auch bei diesem Besuch nicht fehlen, dieses Mal jedoch begleitet von einer sehr lustigen Frage. «Gibt es noch keine Stützstrümpfe mit Reissverschluss?», fragt die Klientin. Das sei doch eine Marktlücke, antwortet Alessia Biundo und lacht. «Vielleicht gibt es das bald. Und vielleicht werden Sie auch bald von einem Roboter besucht, der Ihnen die Strümpfe anzieht und den ganzen Rest erledigt.» Die Reaktion der älteren Dame ist wie erwartet etwas geschockt. Das wolle sie nicht mehr erleben, sagt sie. Sie möchte Menschen treffen, alles andere komme nicht infrage. Es wird über die Gegenwart und die Zukunft gesprochen. Über Veränderungen, die das Leben älterer Menschen geprägt haben.


Professionalität ist das Wichtigste

In der Geschichte der Spitex, die in diesem Jahr ihr 50-jähriges Bestehen feiert, gab es auch einige Veränderungen. Als Alessia Biundo bei der Spitex begann, war eine Sache ganz frisch: das Arbeiten im autonomen Team. Ohne einen Chef oder eine Chefin zu arbeiten – oder auf eine Art der eigene Chef, die eigene Chefin zu sein. Eine moderne Arbeitshaltung. Eine spannende Erfahrung findet die Fachperson. Alessia Biundo hat sich schnell in ihre Rolle eingefunden und sieht grosse Vorteile – für das Team und für die Eigenverantwortung aller Teammitglieder. Und so wird sich auch in Zukunft noch einiges ändern bei der Spitex. Ob eines Tages Roboter kommen, die den Menschen ihren Kaffee servieren oder sogar die Stützstrümpfe anziehen, wird sich zeigen. 

Kurz nachgefragt bei Daniel Jörg, Co-Geschäftsleiter
bei der Spitex Chur

Herr Jörg, wird die Spitex heute vermehrt benötigt im Vergleich zu früher?
Daniel Jörg: In der Schweiz hat die Spitex seit 2014 57 Prozent mehr Kundinnen und Kunden. Das bedeutet auch, dass wir viel mehr Stunden leisten dürfen (Leistungsauftrag der Stadt Chur). Es braucht also mehr Personal und mehr Fachleute. Die Spitex Chur betreute im vergangenen Jahr 1057 Kundinnen und Kunden. Wir haben im Jahr 2023 über 120 000 Einsätze getätigt. 

Welche Herausforderung sehen Sie als die grösste für die Zukunft der Spitex?
Wie in vielen Branchen brauchen wir kompetente und passende Mitarbeitende: Die Spitex Chur hat auf die veränderten Anforderungen der Arbeitswelt reagiert. Viele heutige Mitarbeitende wollen nicht mehr geführt werden. Deshalb haben wir die Vorgesetzten in den Teams abgeschafft. Die Teams organisieren sich selbst und haben dadurch sehr spannende Aufgaben, kombiniert mit den entsprechenden Verantwortungen und Kompetenzen. Sie können sehr viel selbst entscheiden. Unterstützt werden die Mitarbeitenden durch Coaches und verschiedene Fachstellen wie Personal und Finanzen. Unsere Organisationsform entspricht vielen Mitarbeitenden. Daher haben wir Vorteile in der Rekrutierung und eine im Markt tiefe Fluktuation. 

Wie haben sich die Lebensumstände älterer Menschen im Laufe der Zeit verändert, und wie hat sich dies auf die Arbeit der Spitex ausgewirkt? 
Die Kundinnen und Kunden werden älter und haben teils mehrere Erkrankungen und unsere Einsätze werden komplexer und anspruchsvoller. Die Spitex-Branche ist stark gewachsen: Vor 25 Jahren kannte man noch die Gemeindeschwester, welche für die Pflege in einer Gemeinde zuständig war. Heute übernehmen dies professionelle Spitex-Organisationen. Sie sind inzwischen grössere Unternehmen. Die Spitex Chur hat rund 150 Mitarbeitende. Die Arbeit bei der Spitex ist viel komplexer geworden: Viele Spitäler haben die Devise «ambulant vor stationär». Sie schicken ihre Patientinnen und Patienten schneller nach Hause. Somit übernimmt die Spitex viele Aufgaben, die die Spitäler früher erledigten. Diese Dienstleistungen werden von unseren Diplomierten Pflegefachpersonen sichergestellt. Somit ist es auch möglich, mit schweren Krankheiten zuhause zu sein. Wir können beispielsweise zu Hause Infusionen machen oder eine Dialyse durchführen.

Ist das ursprüngliche Ziel der Spitex über die letzten Jahre hinweg dasselbe geblieben?
Das Ziel der Spitex ist gleich geblieben: Dank unserer Hilfe können die Klientinnen und Klienten auch mit Pflege- und Unterstützungsbedarf zu Hause in ihrem vertrauten Umfeld leben. Ihre individuelle Lebensqualität, Selbstbestimmung und Autonomie stehen dabei im Mittelpunkt. Dabei beziehen wir ihr Umfeld mit ein, beraten und unterstützen ihre ­Angehörigen. Die Einsätze richten wir am individuellen Bedarf aus.

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