Präsident von Procap Grischun: «Graubünden muss sich nicht verstecken»
Procap-Grischun-Präsident Reto Crameri zeigt auf, wo der Kanton in Sachen Behindertengleichstellung steht.
Procap-Grischun-Präsident Reto Crameri zeigt auf, wo der Kanton in Sachen Behindertengleichstellung steht.

von Andri Dürst
Reto Crameri ist ein Tausendsassa. Er ist Jurist, Landwirt, Grossrat, Gemeindevorstand und Präsident verschiedener Organisationen; unter anderem von Procap Grischun. Die Selbsthilfeorganisation ist gemäss eigenen Angaben die grösste Mitgliederorganisation für Menschen mit Behinderung im Kanton Graubünden.
Und genau diese Menschen stehen derzeit im Fokus: Denn vom 15. Mai bis zum 15. Juni finden in der ganzen Schweiz Aktionstage im Zeichen der Behindertenrechte statt. Auch in Graubünden können Kinder, Jugendliche, Familien, Schulen und Erwachsene eine Vielzahl von Aktionen besuchen. Ziel ist es, die Öffentlichkeit für die Bedeutung einer inklusiven Gesellschaft zu sensibilisieren. Anlass zu den Aktionstagen gab das 20-jährige Bestehen des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) in der Schweiz sowie das 10-Jahre-Jubiliäum der UNO-Behindertenrechtskonvention.
Guter Wille der RhB erkennbar
Insbesondere das BehiG habe eine wichtige Wirkung, findet Reto Crameri. «Die beiden Hauptpunkte in diesem Gesetz sind der Zugang zum öffentlichen Verkehr sowie die Zugänglichkeit zu öffentlichen Gebäuden.» Was den Bereich ÖV anbelangt, so äussert sich der Procap-Grischun-Präsident differenziert zur aktuellen Situation im Kanton. Denn eigentlich hätte das BehiG vorgesehen, dass die öffentlichen Verkehrsmittel abgesehen von einigen Ausnahmen bis am 31. Dezember 2023 für Menschen mit Behinderung autonom nutzbar sind. «Was die Eisenbahn anbelangt, so ist der gute Wille der Rhätischen Bahn erkennbar, aber am Ziel sind wir noch nicht.» Es gelte zwar, die Leistungen und Investitionen der «Bündner Staatsbahn» zu anerkennen. «Das Unternehmen hat die grösste Rollmaterialbestellung seiner Geschichte hinter sich», erinnert Reto Crameri mit Verweis auf die seit 2020 in Betrieb stehenden Capricorn-Triebzüge, die über Niederflureinstiege und Behindertentoiletten verfügen. «Das war definitiv ein Schritt ins 21. Jahrhundert.» Noch nicht am Ziel sei man bei der Anpassung der Bahnhöfe. Wie die Kantonsregierung aber in einer 2022 verfassten Antwort auf eine Anfrage aus dem Parlament festhält, sollen bis ins Jahr 2030 70 Prozent der RhB-Bahnhöfe behindertengerecht umgebaut sein und damit 87 Prozent der Passagierfrequenzen abdecken. Bis dahin würden der Kanton und die RhB Ersatzmassnahmen zur Verfügung stellen. «Namentlich sind das spezielle Taxis, mit denen Rollstuhlfahrende transportiert werden», erklärt Reto Crameri und ergänzt, dass dies derzeit gut funktioniere.
20 Jahre Zeit gehabt
Bei den Bushaltestellen sind in der Regel die Gemeinden für die Anpassung ans BehiG zuständig. Hier findet es Reto Crameri etwas stossend, dass der Anteil der umgebauten Haltestellen Stand 2023 erst bei 24 Prozent liegt. «Schliesslich hatten die Gemeinden und ÖV-Betreiber 20 Jahre Zeit, ihre Umbauten vorzunehmen.» Was ihm aber wichtig sei, zu betonen, ist, dass das im BehiG vorgesehene Verhältnismässigkeitsprinzip gewahrt werde. «Nicht saniert werden müssen Haltestellen und Bahnhöfe, deren Ausbau einen unverhältnismässigen Aufwand bedeuten würde», erklärt er dazu. Wo beispielsweise nur Wanderer ein- und aussteigen würden, sei eine Anpassung ans BehiG unverhältnismässig.
Doch was verhältnismässig ist und was nicht, darüber hat sich das Kantonsparlament auch schon gestritten. Reto Crameri erinnert sich noch gut an eine Debatte zum Raumplanungsgesetz. «Es ging darum, einen Passus ins Gesetz aufzunehmen, mit dem Bauherrschaften verpflichtet werden, neue Mehrfamilienhäuser so zu bauen, dass sie für einen hindernisfreien Zugang angepasst werden können.» Ob diese Regelung in einem abgelegenen Bergdorf wirklich Sinn mache, wurde gefragt. «Man einigte sich schliesslich auf ein Ja und fand, dass solche Regelungen auch in einem abgelegenen Bergdorf Sinn machen. Schlussendlich profitieren nämlich alle davon.»
Viele Projekte und Ideen
Doch Procap Grischun beschäftigt sich derzeit nicht nur mit dem BehiG: «Sehr aktuell ist das Thema des Stimmrechts für Menschen, die unter Beistandschaft stehen.» Denn erst Ende April hätte die Landsgemeinde in Appenzell Innerrhoden im Zuge einer Verfassungsrevision dieses Stimmrecht eingeführt, so der Mitte-Politiker. «Procap-Grischun-Geschäftsführer Philipp Ruckstuhl hat bereits 2020 im Grossen Rat eine diesbezügliche Anfrage gestellt. Die Antwort ergab, dass in unserem Kanton zwar nur rund ein Dutzend Menschen davon betroffen ist. Ein Stimmrecht für diese Leute wäre aber eine wichtige Sache, und das Ganze ist auch eine Forderung aus der Behindertenrechtskonvention.» Man führe derzeit Gespräche in dieser Angelegenheit und fasse die Ausarbeitung eines politischen Auftrags ins Auge. «Das 10-Jahr-Jubiläum ist nun sicherlich ein guter Anlass, um das Thema wieder aufzugreifen.» Ebenfalls aufgreifen möchte man die Idee einer Behindertensession. «Eine solche fand letztes Jahr auf nationaler Ebene bereits statt, und dieses Jahr zieht der Kanton Tessin nach. Uns schwebt nun vor, so etwas auch in Graubünden einzuführen.»

Was Reto Crameri derzeit ebenfalls noch vermisst, ist ein Konzept, das die Bereitstellung von Freizeitangeboten für Menschen mit Behinderung koordinieren würde. Es gebe zwar durchaus gewisse Angebote, aber im Ganzen stehe Graubünden diesbezüglich eher mittelmässig da. Sein Fazit zur Gesamtsituation der Behindertengleichstellung fällt aber durchaus positiv aus. «Wir sind in Graubünden gar nicht so schlecht aufgestellt und müssen uns nicht verstecken. Zudem ist viel guter Wille da. Bis es aber so weit war, war viel Druck vonseiten der Politik nötig.»
Doch nicht nur Politikerinnen und Politiker müssten für das Thema sensibilisiert werden, auch gelte es, die Gesellschaft darauf aufmerksam zu machen. «Vielen Menschen ist es gar nicht bewusst, wie privilegiert man ist, wenn man keine Einschränkungen hat.» Ziehe man sich einmal die imaginäre Brille eines Menschen mit Behinderung an, sehe man, wie viele Hürden es im Alltag gibt. «Wenn irgendwo ein Erklärvideo publiziert wird, das keine Untertitel enthält, nützt das einer Person mit Hörbehinderung nichts.» Der Procap-Grischun-Präsident schneidet auch das Thema ÖV nochmals an. «Besonders, wenn eine längere Reise zurückgelegt werden muss, ist das für Menschen mit Handicap eine Herausforderung.» Wenn dann noch kurzfristige Sachen wie Verspätungen oder Gleisänderungen hinzukämen, lasse sich die geplante Reisekette oft nicht mehr einhalten. Genau deshalb erachtet Reto Crameri die aktuellen Aktionstage als wichtig – so könne der Gesellschaft die Bedeutung der Behindertengleichstellung wieder ins Gedächtnis gerufen werden. Denn auch wenn in den letzten Jahren viel passiert sei – zu tun gibt es auch in Zukunft noch viel.
Neue Fach- und Koordinationsstelle
Die Bündner Regierung schafft eine Fach- und Koordinationsstelle für Behindertengleichstellung und Behindertenrechte. Diese Stelle stärkt die Rechte von Menschen mit Behinderung durch die Koordination und Begleitung verschiedener Aktivitäten innerhalb und ausserhalb der kantonalen Verwaltung und durch die Sensibilisierung der Gesellschaft für die Anliegen von Menschen mit Behinderungen.
Mit der Schaffung einer Fach- und Koordinationsstelle Behindertengleichstellung und Behindertenrechte macht der Kanton Graubünden einen bedeutenden Schritt zur noch stärkeren und koordinierteren Berücksichtigung der Anliegen von Mensch mit Behinderung und zur Information und Sensibilisierung der Gesellschaft für die Anliegen von Menschen mit Behinderungen.
Aufgabe der Fach- und Koordinationsstelle ist es auch, die Massnahmenempfehlungen aus einer vom Grossen Rat in Auftrag gegebenen Bestandesaufnahme weiterzubearbeiten und in geeigneter Form für die Umsetzung zu adaptieren. Die kantonale Fachstelle dokumentiert die Umsetzung der Massnahmen in einem Bericht und legt diesen periodisch der Regierung zur Kenntnis vor.
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"Tausendsassa" oder…
"Tausendsassa" oder nostalgisch "Hansdampf in allen Gassen".
Ist man da pro Gebiet wirklich ganz firm?
Reto Crameri - Präsident von Procap Grischun, die Selbsthilfeorganisation ist gemäss eigenen Angaben die grösste Mitgliederorganisation für Menschen mit Behinderung im Kanton Graubünden - spricht von Behindertenrechten, Inklusiver Gesellschaft, Sensibilisierung. Anlass zu den Aktionstagen gab das 20-jährige Bestehen des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) in der Schweiz sowie das 10-Jahre-Jubiliäum der UNO-Behindertenrechtskonvention.
Ich frage:
Wenn das alles angeblich so super ist, warum frage ich seit Jahren vergeblich? Warum viele Leidenden exkludiert werden? Und ich keine konstruktive Antwort von "Sozialen Organisationen" oder Einzelpersonen erhielt.
Ich veröffentliche meine Wünsche, oder besser gesagt die essenziellen Bedürfnisse der gesundheitlich Schwächeren Leidensgenossinnen (inklusive DIE ARTEN alias Artensterben, bei beiden sehe ich dieselbe Ursache: lebenswidrigen Umweltbedingungen insbesondere ihres näheren Umfelds) doch bereits seit etwa zehn Jahren.
Ich dachte, wenn Problem (Ausgangslage, Ursache), Fallbeispiele Leidbetroffener zur Illustration, und im vorliegenden Fall sogar Lösung (hochwirksam und nicht teurer als Übliches) ich präsentiere, müsste "man" das doch verstehen und unterstützen. Zumal in Medien ich seit jeher lese, wie sozial man sei, wie sehr man in der Schweiz um Minderheitenschutz (vergleiche Konkordanz) bekümmert sei, wieviel Subventionen und Spenden "Soziale Organisationen" bekommen und die Schweiz bekannt ist für ihre zahlreichen Stiftungen. Und dass Milliarden für "Kultur" da sind. Und zumal Traumatherapien gehypt werden (in der SO kürzlich zwei Artikel dazu), die man für richtig oder falsch halten kann, aber wo ich null Lösung gegen laufende Retraumatisierung sehe. Das ist mein wesentlicher Kritikpunkt an derlei Therapien (man versucht das Wasser teuer aus dem Boot zu schöpfen, statt oft bestehende Lecks zu schliessen).
Über diesen Widerspruch zwischen Schein (PR) und Sein war ich zuerst verdattert (dachte, es liege an meiner Naivität, daran, dass ich gerade erst hinter dem Mond aus dem Ei geschlüpft sei als blauäugiges Greenhorn). Aber nein, die Sache scheint System zu haben, warum auch immer (Stoff für separates Kapitel). Bin jedenfalls desillusioniert.