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Jagdfieber

Der Skelettfund in Falein, einem Maiensäss im Parc Ela, wirft Fragen auf: Weshalb mussten drei Personen ihr Leben lassen? Für den Parc-Ela-Krimiwettbewerb liessen 177 Personen ihre Fantasie walten. «Jagdfieber» ist eine der acht prämierten Geschichten.

Südostschweiz
16.06.16 - 14:13 Uhr
Kultur

Von Noemi Sacher Stojanov

Jagdfieber

Ich stehe bereits neben den Toten, als Tello mich humpelnd einholt. Heute Morgen hat ein scharfkantiger Fels seinen Schuh zerrissen und die Wadenbinde, die er notdürftig darum gewickelt hat, hängt auch bereits in Fetzen.

„Jesus, Maria und Josef!“, ruft er aus und bekreuzigt sich dreimal, als er die Toten sieht. „Das sind ja Nonnen.“
Zwei jedenfalls. Das Kopftuch der einen ist dunkelrot und verklebt. Das Blut stammt von einer tiefen Schädelwunde. Der zweiten fehlt der Kopf und der dritte, ein Mann, hat ein Loch in der Stirn.
„Ermordet“, sagt Tello und klingt ängstlich dabei.
Vielleicht. Ein süsslicher Geruch liegt in der Luft, der nicht zu seiner Überlegung passen will. Und im Gras liegt ein Durchschläger. Ein fingerdicker Stab aus gehärtetem Eisen, spitz und in ganzer Länge verschmiert mit Blut und Schleim. Das ist kaum die Waffe eines Räubers.

Aber was geht es uns an? Seit sechs Tagen sind wir auf Wolfsjagd. Zweifellos war es unser Wolf, der den Kopf dieser Nonne weggetragen hat. Und das hat ihn Zeit gekostet, viel Zeit. Die Spur ist hier frisch wie am ersten Tag. Das Jagdfieber packt mich mit heissen Wellen. Wir haben eine Rechnung offen, dieser Wolf und ich.
Quälend langsam friemelt Tello dem toten Mann die Schuhe von den Füssen, zieht sie an. Ich trabe unruhig hin und her, dränge ihn zur Eile. Endlich ist er bereit. Endlich geht es vorwärts. Die Spur führt im Zickzack hinunter ins Tal, mit jedem Schritt holen wir auf – bis Tello plötzlich stehen bleibt.
„Das Kloster Mistail“, sagt er. „Wir müssen die Toten der Mutter Oberin melden.“
Er biegt von der Spur ab!

Ich protestiere, stelle mich ihm in den Weg. Aber er lässt sich nicht beirren und mir bleibt nichts übrig, als mich knurrend zu fügen.

Es dämmert bereits, als wir das Kloster erreichen. Während Tello einer Nonne ins Wohnhauses folgt, treibe ich mich herum, gelange zu einer niederen Mauer, dahinter die Kirche. Sie riecht nach frischem Kalk. Die Tür steht offen und ein Rascheln lockt mich ins Innere. Nur eine Maus, die, kaum hat sie mich gesehen, in einer Ritze verschwindet. Es feuchtelt, wohl von den Farben an den Wänden, die noch nicht ganz trocken sind.
Mit dem Wind wabern Essensgerüche über den Hof. Ich folge ihnen bis vor das Küchenhäuschen. Soeben kommt die Köchin aus dem Wohngebäude zurück, ein leeres Servierbrett in der Hand.

Ich hefte mich an ihre Fersen.
Genau im richtigen Moment, als sie das Brett abstellt und den Rücken durchdrückt, schaue ich sie mit grossen Augen an. Sie lacht und gibt mir ein paar Essensreste.

Ein voller Bauch lindert zwar das Jagdfieber, aber nicht den verletzten Stolz. Ich kann es noch immer kaum glauben. Fünf! Fünf Schafe hat uns dieser Wolf gerissen. Am liebsten würde ich jetzt gleich aufspringen, in die Nacht hinauslaufen und ihn in Stücke reissen.
Ein Klopfen stört meine blutrünstigen Gedanken. Eine Frau steht am Küchenhaus.
Sie vermisse ihren Mann, den Maler, er habe in den Bergen Malachit gesucht für Farben.
Und da die Köchin: Es seien bereits alle unterwegs, um zwei Nonnen zu suchen, die längst vom Heidelbeerpflücken zurückerwartet werden.
Aber dann muss die Köchin Wein auftragen und die Frau des Malers bleibt händeringend neben dem Herd zurück, bis die andere mit eiligen Schritten wiederkommt.
„Der Fremde hat deinen Mann gefunden“, stösst sie hervor. „Ich hab soeben gehört, wie er’s der Mutter Oberin erzählt hat.“
In diesem Moment nähern sich von der Klostermauer her schemenhaften Gestalten. Einige halten brennende Kienspäne. Sie sind in Aufruhr und nur allmählich schälen sich einzelne Worte aus dem Lärm heraus.
„Mord“, rufen sie und „Raub“.
Jetzt geht die Tür zum Wohnhaus auf. Tello steht da, an seiner Seite die Mutter Oberin. Eilig rapple ich mich auf und folge der Frau des Malers über den Hof.
Ich stehe direkt neben ihr, als sie aufschreit und mit zitterndem Finger auf Tello zeigt.
„Er hat meinen Mann nicht gefunden, er hat ihn erschlagen“, kreischt sie so laut, dass es mir in den Ohren schmerzt.
Mit einem einzigen Satz bin ich bei Tello und stelle mich schützend vor ihn. Ich bin gross genug, dass die Bauern auf Distanz bleiben. Vorerst.
„Er trägt die Schuhe meines Mannes“, hetzt die Frau da bereits weiter. „Ich kenne sie genau. Mit meinen eigenen Händen habe ich diese Naht genäht und den Faden dafür gesponnen.“
Erschrockene Rufe aus der Menge und ich spüre, wie Tello zusammenfährt.
„Ich habe die Schuhe auf einer Anhöhe im Wald gefunden. Drei Menschen lagen dort, doch sie waren schon tot als wir ankamen.“
„Hängt ihn auf“, ruft die Malersfrau, ohne meinem Freund zuzuhören.
„Sie hat Recht“, schreit die Meute. „Hängt ihn!“
„Wir haben die Toten gefunden“, ruft Tello über das Stimmengewirr. „Nur gefunden. In der Not habe ich meine schlechten Schuhe gegen seine guten getauscht. Ich werde Euch dafür bezahlen, gute Frau.“
Die Meute rückt näher. Wut liegt in der Luft, dass sich meine Nackenhaare sträuben. Ich mache mich bereit zum Kampf.

„Haltet ein!“, ruft die Mutter Oberin über den Lärm. Sofort wird es still.
„Auf meiner Türschwelle wird kein Gast verurteilt“, sagt sie mit fester Stimme. „Morgen bei Tagesanbruch werden wir über die Sache beraten. Bis dahin: Sperrt ihn ein.“

Noch vor der Dämmerung steigen wir ins Falein hinauf. Diesmal kümmert es mich nicht, dass der Wolf mit jedem unserer Schritte an Boden gewinnt. Die Nacht in Gefangenschaft hat Tello bleich und hohlwangig zurück gelassen und die Gesichter der Bauern sind heute noch feindseliger als gestern. Jeder, der laufen kann, folgt uns den Pfad hinauf. Der Zug bewegt sich quälend langsam, längst bin ich ihnen voraus, warte ungeduldig, bis sie mich eingeholt haben. Beziehe Posten auf einem grossen Stein, beobachte Tello, dass sich ihm keiner nähert, ihm keiner etwas antut. Endlich erreichen wir die Toten und jetzt bleibe ich dicht an seiner Seite. Wie erwartet wird die Menge unruhig, als sie die zerfleischte Nonne sehen, die Wunde am Kopf des Mannes und den eingeschlagenen Schädel der anderen Frau.
In ihren Augen ist alles klar: Mord.
Die Frau des Malers wirft sich wehklagend auf ihren Mann, reisst an seinem Obergewand. Der Gurt fehlt und neben seinem toten Körper – Tellos Schuhe.
„Er hat seinen Dolch gestohlen“, ruft sie.
„Ich habe ihn nicht.“ Tellos Stimme, viel zu leise. Sie hören ihn nicht.
Ich bin sicher, dass hier irgendwo … da. Zwischen zwei Tannen lockere, dunkle Erde. Ich scharre sie weg und tatsächlich. Schon dicht unter der Oberfläche kommt die Gürtelschnalle zum Vorschein, ein paar beinerne Knöpfe und eine silberne Haarspange, weiter unten der Dolch.
Triumphierend schaue ich auf. Es war kein Raub.
„Verscharrt hat er die Beute, um sie später zu holen“, ruft die Malersfrau und viele Kehlen stimmen ihr zu.
Die Miene der Mutter Oberin wird steinern, ihre Augen dunkel und ihr Mund schmal.
Zum ersten Mal wird mir bang. Was jetzt? Da erinnere ich mich an den süsslichen Geruch. Heute ist er fast verschwunden, zu stark sind die Ausdünstungen der Leute in ihrer Wut. Aber ich erinnere mich, dass er von dort drüben kam. Vielleicht ist die Beute nicht das Einzige, was verscharrt unter der Erde liegt.
Ich folge den dünnen Geruchsfäden und je weiter ich mich von den Menschen entferne, desto deutlicher nehme ich sie wahr. Unter einer Wurzel entdecke ich eine weitere lockere Stelle im Boden. Die trockene Erde lässt sich leicht zur Seite schieben.
Tello sieht, dass ich ihm helfen will. „So wartet doch. Er hat noch etwas gefunden“, ruft er.
Die Bauern kommen misstrauisch zu mir herüber. Diesmal folgt unruhiges Gemurmel meiner Entdeckung. Die Mutter Oberin tritt hinzu und zieht scharf die Luft ein, als sie den bräunlichen Klumpen Fleisch sieht.
Langsam, widerwillig fast, geht sie zu der Nonne mit dem eingedrückten Schädel und schlägt ihre Röcke zurück. Kurz nur, aber es ist offensichtlich. Das Innere ihrer Beine ist blutverschmiert. Der Klumpen Fleisch ist ihre Leibesfrucht.
Mit einem Mal ändert sich das Bild. Die Bauern, die meinen Tello eben noch hängen wollten, weichen entsetzt zurück. Die Mutter Oberin bückt sich mit steinerner Miene nach dem schleimverschmierten Durchschläger. Und langsam wird allen klar, dass die Nonnen keine Heidelbeeren gesucht haben und der Maler keinen Malachit. Die Vorderen flüstern es den Hinteren und ein vorwitziger Junge fängt eine schallende Ohrfeige.
Langsam steht die Frau des Malers auf und weicht von ihrem Mann zurück. Vielleicht, als seine Geliebte elend verblutet ist, hat er krank vor Trauer die Engelmacherin bedroht. Vielleicht hat sie, um sich zu wehren, den Durchschläger durch seine Stirn gerammt. Und vielleicht, nachdem sie die Beweise vergraben und den Kopf der toten Frau verletzt hat, um einen Raubmord vorzutäuschen, vielleicht kam gerade dann unser Wolf, der sie, vom Blutgeruch verrückt geworden, angegriffen hat.
Während die Bauern noch debattieren, wie die Toten ins Tal zu schaffen wären, oder ob man sie doch lieber hier oben begraben würde, um sich den beschwerlichen Weg zu sparen und weil sie doch alle Sünder wären, tritt die Mutter Oberin zu uns.
„Wenn du wenigstens den Wolf zur Rechenschaft ziehst“, sagt sie mit schwerer Stimme zu Tello, „dann könnt ihr gehen wohin ihr wollt, du und dein Hund.“

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