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Das Regierungskonzert, eine Institution

Die Kulturgesellschaft Glarus richtet alle zwei Jahre ein grosses Orchesterkonzert im Auftrag der Glarner Regierung aus. Eine Tradition, die vor 75 Jahren einer fortschrittlichen Idee entsprang.

Südostschweiz
28.08.21 - 04:30 Uhr
Kultur
Der Auftritt der Cellistin Sol Gabetta am Regierungskonzert im Jahr 2008 gehört zu den Highlights der Konzertreihe.
Der Auftritt der Cellistin Sol Gabetta am Regierungskonzert im Jahr 2008 gehört zu den Highlights der Konzertreihe.
Bild Swantje Kammerecker

von Swantje Kammerecker

«Glarus pflegt seine Rituale wie kaum ein anderer Kanton», war vor einigen Jahren in einer Kolumne der «NZZ» zu lesen. Landsgemeinde und Näfelser Fahrt wurden dabei ebenso erwähnt wie das Regierungskonzert. Die Schreibende erinnert sich, aufgehorcht zu haben, als sie erstmals dieses Wort hörte. Musiziert da etwa die Regierung selbst? Oder liess sie gar zur eigenen Unterhaltung ein Ensemble auftreten?

Tatsächlich geht dieses wohl einzig im Glarnerland bekannte Format auf den Regierungsrat Rudolf Schmid zurück, der im Zweiten Weltkrieg für eine kulturelle Bereicherung der Bevölkerung sorgen wollte. Mit einem Beitrag aus dem Lotteriefonds wurde vom Regierungsrat 1944 der damaligen Glarner Konzert- und Vortrags­gesellschaft ein Geldbetrag zugesprochen, der am 18. Februar 1945 das erste Regierungskonzert ermöglichte. Erich Schmid, damals Glarner Musikdirektor, dirigierte das Stadtorchester Winterthur, Solist war der Pianist Paul Baumgartner. Die Schweizerische Musikzeitung war des Lobes voll, die «Neue Glarner Zeitung» schrieb: «Die grosse Zuhörerschaft bedachte die Ausführenden mit rauschendem Beifall.» Die Erfolgsgeschichte setzte sich fort. Als Dirigenten folgten unter anderem Jakob Kobelt, Peter Eidenbenz, Alois Koch; berühmte Solistinnen wie Clara Haskil, Johanna Martzy oder Maria Stader begeisterten.

«Solisten ersten Ranges»

Heute, ein Dreivierteljahrhundert später, leitet der Glarner Musiker Martin Zimmermann das Ressort Konzerte der Kulturgesellschaft Glarus und organisiert in dieser Funktion auch seit 2002 die Regierungskonzerte. Er ist überzeugt: «Auch wenn die Glarner Zuhörerschaft heute mobiler ist, bleibt das Regierungskonzert nach wie vor ein wichtiges, einzigartiges Ereignis in unserem Kulturleben. In Städten mit eigenem Orchester ist es ja völlig normal, dass ein oder mehrere Orchesterkonzerte pro Woche stattfinden. Wenn bei uns alle zwei Jahre ein Konzert mit einem Berufsorchester stattfindet, ist das Interesse gross, das Publikum sehr dankbar.»

Dass Kultur für die Standort- und Lebensqualität höchst wirksam sei, hätten bereits vor 100 Jahren die Gründer der damaligen Glarner Musik­gesellschaft erkannt. Ihrem Anspruch, nur «Solisten ersten Ranges» zu verpflichten, wird auch in den Regierungskonzerten nachgelebt – und dabei gelang immer wieder Erstaunliches.

Ein Wagnis

Zum aufsehenerregendsten in der Reihe der Regierungskonzerte gehören die Aufführungen der Neunten Sinfonie von Ludwig van Beethoven; 1957 unter dem damaligen Glarner Musikdirektor Jakob Kobelt und 2014 mit Giovanni Antonini am Pult des Kammerorchesters Basel. Jakob Strebi, langjähriges Vorstandsmitglied der Kulturgesellschaft Glarus und 1957 noch Gymnasiast, erinnert sich: «Als Platzanweiser auf der Empore durfte ich, an der Orgelbrüstung stehend, eine unvergleichliche Aufführung miterleben. Ich schrieb für die Kantonsschule einen grossen Aufsatz, wohl der Grundstein für meine späteren Konzertbesprechungen.» Auch 2014 verfasste er die Konzertkritik zur «Neunten». Die Stadtkirche war bis auf den letzten Platz besetzt, der Run auf die Tickets riesig. Als Hauptverantwortlicher der Organisation hatte Martin Zimmermann Jahre in die Vorbereitungen investiert, um den Glarner Musikfreunden dieses Erlebnis zu ermöglichen: «Es war ein Wagnis, das mit Abstand gewaltigste Vorhaben in der Geschichte unserer Kulturgesellschaft. Undenkbar und nicht finanzierbar ohne ganz viel ehrenamtlichen Einsatz; von unserem Vorstand, aber etwa auch durch den Glarner Sing­verein beim Bühnenbau und andere Helfende.» Wie schon bei «seinem» ersten Regierungskonzert 2002, als er mit dem Velo den ganzen Kanton abfuhr, um Plakate zu hängen, scheut der inzwischen in Winterthur wohnhafte Mitlödner keine Mühe für die Leuchtturm-Events. Er kümmert sich von Werbung über die Verpflegung der Musiker bis hin zu Fundraising, Logistik, Administration. «Die Begeisterung des Publikums ist der Lohn, die Erinnerung bleibt.»

Er erwähnt weitere unvergessliche Regierungskonzerte. Etwa das Regierungskonzert 2008 mit der Cellistin Sol Gabetta und ihrer «äusserst berührenden Interpretation» der Rokoko-Variationen von Tschaikowsky, welche auch Jakob Strebi zu den besonderen Erinnerungen zählt. Seine Best-of-Regierungskonzert-Liste geht bis in die Fünfzigerjahre zurück: «Nach der Neunten 1957 folgte 1959 Beethovens ‚Eroica‘ unter Leitung von Jakob Kobelt; wir pfiffen und spielten die Themen, der Trauermarsch ging uns nahe. 1960 dann die grosse C-Dur-Sinfonie von Franz Schubert, welche mich in all den Jahren nicht mehr losliess.»

Keine persönlichen Vorlieben

Wie geht man heute vor bei der Wahl der Programme und der Musizierenden? «Persönliche Vorlieben stecke ich zurück, ebenso Freundschaftsbeziehungen. Gerade als Musiker gerät man sonst schnell in Abhängigkeiten», sagt Martin Zimmermann. «Nach einer Einladung wird oft eine ‚Gegenein­ladung‘ erwartet. Solche Deals schlage ich konsequent aus, auch wenn mir dadurch Engagements entgehen oder ich Freunde mit Absagen brüskieren muss. Aber die künstlerische Unab­hängigkeit scheint mir ganz zentral.» Für ein gutes Programm müssten natürlich Termine und Kosten passen. «Aber vor allem frage ich mich, was das Glarner Publikum schätzt, und was künstlerisch wertvoll ist.»

Dieser Gedanke stand auch beim Leuchtturm-Event fürs Jubiläumsjahr der Kulturgesellschaft Pate: Für Mai 2022 (von 2020 verschoben) ist die Wiederaufführung der Glarner Oper «Fiorina o la fanciulla di Glaris» geplant. Sie beinhaltet auch das Regierungskonzert. Nebst hochkarätigen Profis wirken einheimische Musizierende mit – ähnlich wie 1957 in der Chorbesetzung von Beethovens «Neunter».

Ein falsches Regierungskonzert

Auch Pech, Pannen, Tragisches gehören zur Geschichte der Glarner Regierungskonzerte. Wegen finanzieller Engpässe gab es immer wieder Debatten und Kopfzerbrechen. Deshalb beschränkte man sich ab 1960 auf die Durchführung alle zwei Jahre. 1961, als bei einem Lawinenunglück in der Lenzerheide zehn Jugendliche einer Glarner Schulklasse starben, sagte man es sehr kurzfristig ab.

Einmal wurde auch von einer externen Person beinah ein falsches Regierungskonzert in der Zeitung ange­kündigt und beworben, wie Martin Zimmermann mit Schrecken feststellte, der dann die «Fake News» noch vor der Publikation aus der Welt schaffte.

Die Künstlerinnen und Ensembles kamen stets gerne nach Glarus – oft auch mehrfach. Selten sei mal etwas rund ums Konzert schiefgegangen – wie beim Regierungskonzert 1998 mit dem Dirigenten Heinrich Schiff die Bühnenbeleuchtung. «Erst wurde es stockfinster in der Aula, dann sassen nur noch die Bläser in der hintersten Reihe im Dunkeln und konnten ihre Noten kaum sehen. Plötzlich strahlte eine Reihe von Scheinwerfern grell und frontal auf sie, sodass sie gar nichts mehr sehen konnten», berichtet Martin Zimmermann. Der Dirigent musste den Satz abbrechen und nach besser eingestelltem Licht neu beginnen. Noch heute erinnerten sich die Mitglieder des Orchesters aber lachend an diese Panne vor einem Vierteljahrhundert.

Mit diesem Artikel schliesst die zwölfteilige Serie «100 Jahre Kultur­gesellschaft Glarus» ab. Das für die Saison 2020/2021 geplante Festjahr startet um ein Jahr verschoben im September 2021.

Der Auftritt der Cellistin Sol Gabetta am Regierungskonzert im Jahr 2008 gehört zu den Highlights der Konzertreihe. Bild: Swantje Kammerecker

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