×

Ein Schülerwohnheim als Gesamtkunstwerk

Der Bündner Heimatschutz hat die Kampagne «52 beste Bauten. Baukultur Graubünden 1950-2000», ins Leben gerufen. Verschiedene Bauwerke werden ein Jahr lang vorgestellt. Auch das Konvikt in Chur wird im Rahmen der Kampagne unter die Lupe genommen. Es gilt als Gesamtkunstwerk.

Südostschweiz
24.05.20 - 04:30 Uhr
Kultur
Die kubische Verschachtelung der verschiedenen Gebäudeteile des Konvikts in Chur vereint sich in einer zusammenhängenden, monolithischen Bauskulptur.
Die kubische Verschachtelung der verschiedenen Gebäudeteile des Konvikts in Chur vereint sich in einer zusammenhängenden, monolithischen Bauskulptur.
RALPH FEINER

von Ludmila Seifert*

Der Bündner Heimatschutz hat am 2. November 2019 die einjährige Kampagne «52 beste Bauten. Baukultur Graubünden 1950–2000» lanciert, um für das baukulturelle Erbe der jüngeren und jüngsten Vergangenheit zu sensibilisieren. Ein Jahr lang wird im Wochenrhythmus unter www.52bestebauten.ch ein bedeutendes Bauwerk aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts porträtiert.

Otto Glaus (1914–1996) gehört zu den profiliertesten Schweizer Architekten der Nachkriegszeit. Kunsthandwerklich ausgebildet, praktizierte er ein Jahr lang im Pariser Atelier von Le Corbusier, bevor er an der ETH Zürich Architektur studierte. Im Jahr 1945 eröffnete er sein eigenes Büro. Seine Hoch-Zeit waren die Sechzigerjahre, in denen er mit einer Reihe skulpturaler Sichtbetonbauten hervortrat. Der Werkstoff Beton behagte Glaus, da dessen konstruktive Eigenschaften ihm die freie kubische Gestaltung von Volumen und Innenräumen ermöglichten.

Unter den plastisch betonten Bauten Glaus’ nimmt das zwischen 1967 und 1969 erbaute Konvikt der Bündner Kantonsschule eine herausragende Stellung ein. Den markanten Bau, der wie eine Pueblosiedlung am steilen Hang südöstlich der Churer Altstadt «klebt», realisierte Glaus mit seinem damaligen Büropartner Hans-Rudolf Lienhard (1925–1974) auf der Grundlage eines Entwurfs, der 1964 siegreich aus einem zweistufigen Projektwettbewerb hervorgegangen war. An landschaftlich exponierter und städtebaulich sensibler Lage in Sichtweite des altehrwürdigen Bischofssitzes war eine nahezu autarke Wohnanlage für 100 Schüler zu errichten. Die gestalterische Hauptleistung des ausgeführten Projekts liegt in der bravourösen Einfügung des Gebäudes in das Landschaftsbild.

Aus der Ferne wirkt der Komplex wie ein expressiv geformter Monolith, tatsächlich ist er in drei lange, hinter- und übereinander gestaffelte Flachdachtrakte aufgelöst. Durch Vor- und Rücksprünge passen sich die einzelnen Baukörper dem schroff abfallenden und konvex gewölbten Terrain an.

Die Aufgliederung der Baumasse bricht deren Monumentalität und verhindert eine Konkurrenz zu den Baudenkmälern der näheren Umgebung. Der Sichtbeton trägt dazu bei, dass die Anlage wie aus dem Felsen herauszuwachsen scheint. Die nuancierte Behandlung der Oberflächen steigert die Wirkung des Materials.

Glaus’ Gestaltungsbedürfnis reichte auch im Innern bis ins Detail. Das mitsamt den selbst entworfenen Möbeln subtil differenzierte und harmonisch abgestimmte Interieur zeugte einst von der Konzeption des Hauses als Gesamtkunstwerk.

* Die Kunsthistorikerin Ludmila Seifert ist als Geschäftsleiterin des Bündner Heimatschutzes Projektleiterin und Autorin der Kampagne tätig.

Kommentieren
Wir bitten um euer Verständnis, dass der Zugang zu den Kommentaren unseren Abonnenten vorbehalten ist. Registriere dich und erhalte Zugriff auf mehr Artikel oder erhalte unlimitierter Zugang zu allen Inhalten, indem du dich für eines unserer digitalen Abos entscheidest.
Mehr zu Kultur MEHR