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Jerusalem, so fern, so nah – und ein rätselhaftes Opus1

Advent im Julierturm: Das Origen-Vokalensemble unter Clau Scherrer hat ein andächtiges Publikum begeistert.

Carsten
Michels
22.12.19 - 04:30 Uhr
Kultur
Eindrücklich: Das Origen Ensemble Vocal konzertiert im Turm auf dem Julierpass.
Eindrücklich: Das Origen Ensemble Vocal konzertiert im Turm auf dem Julierpass.
BENJAMIN HOFER

Man kann sich schon fragen, welche Bilder die Gläubigen – in den Bündner Tälern zumal – einst im Kopf hatten, wenn die Pfarrer vom gelobten Land predigten. Viel Aufschluss gaben die Kirchenmalereien jedenfalls nicht, sofern sie überhaupt noch existierten. Das imaginierte Palästina erinnerte meist an den Norden Italiens, manchmal auch nur an eine Gegend kurz hinter Landquart. Von Tiefen-castel aus gesehen jedenfalls sehr weit weg.

Dennoch war das Heilige Land in den Liturgien zwischen Surselva, Albulatal und Oberhalbstein stets präsent. Als Traumraum und Verheissung, als wärmende Vision in langen Wintern. Die fremden, seltsam vertrauten Orte: so fern, so nah, mag sich auch mancher Konzertbesucher am frühen Donnerstagabend im Julierturm gedacht haben. Vor allem, wenn er den Blick vom Origen-Vokalensemble abwandte und zu den Fenstern hinausschweifen liess über die Gipfel am Pass. «In fegl naschiu a Bethlehem, che dei legrar Jerusalem, alleluja», sang der kreisförmig um Dirigent Clau Scherrer stehende Chor, während draussen der Wind den Schnee aufwirbelte. Ein Sohn ist in Bethlehem geboren, der Jerusalem erfreuen soll, Halleluja.

Bubenhaft rasch

Für den Bündner Komponisten Gion Antoni Derungs (1935–2012) muss die «Consulaziun dell’olma devoziusa» so etwas wie das gelobte Land gewesen sein, ein Raum musikalischer Erinnerung. Immer wieder beschäftigte sich Derungs mit diesem überlieferten Schatz geistlicher Gesänge. Im 17. Jahrhundert noch ohne Noten publiziert, versammelte die «Consulaziun» Psalmen und Erbauungslieder erstmals in rätoromanischer Sprache. Die Melodien variierten von Tal zu Tal. Allein von «In fegl naschiu», aus dem die oben zitierten Zeilen stammen, existierten 15 Varianten. Derungs entschied sich bei seiner Bearbeitung für die Variante aus Parsonz. «Von frischer Bubenhaftigkeit»: So charakterisierte der Bündner Musikhistoriker und Autor Walter Frei-Cantieni in einem 1965 erschienenen Aufsatz dieses Lied. Es sei, «unbekümmert um seinen besinnlichen Gedanken, in raschem Tempo als Sterndreherlied gesungen» worden.

Ähnlich unbekümmert nahm sich Derungs des Liedes sowie fünf weiterer an. 1981 schuf er seine «Quater motettas e duas canzuns da Nadal». Freie Bearbeitungen, kunstvoll gesetzt für gemischten Chor. Bis heute ist ein Rätsel, warum der Komponist ausgerechnet dieses Werk als sein op. 1 bezeichnete. Die Liedersammlung «Aspects» beispielsweise firmiert im Werkverzeichnis unter op. 55, obwohl die Kompositionen wesentlich früher, zum Teil schon in den Sechziger- und Siebzigerjahren entstanden.

Wie auch immer: Sehr wahrscheinlich erklang «Nadal op. 1» im Julierturm überhaupt zum ersten Mal. Denn die Satzweise mit ihrer komplizierten Harmonik ist dermassen anspruchsvoll, dass sich wohl kein Bündner Chor an die Einstudierung geschweige denn an eine Aufführung gewagt hätte.

Grandezza gezeigt

Das von Dirigent Scherrer aus 26 Sängerinnen und Sängern zusammengestellte Origen-Vo- kalensemble schien keinerlei Schwierigkeiten zu kennen. Blitzsaubere Intonation war Ehrensache, selbst in den atemberaubend schnellen Sechzehntelketten parallel geführter Sekundklänge, wie sie «Glisch nuviala» verlangt. Weniger virtuos, dafür besonders innig beschliessen die dreistrophigen «Canzuns» das Opus. Scherrer steigerte die Innigkeit noch, indem er jeweils die zweiten Strophen nur vom Sopran (in «Tut ils fideivels») respektive einem Soloquartett (in «En in curtgin») singen liess. Umso wirkungsvoller die dritten Strophen wieder mit dem kompletten Chor. Ganz nebenbei zeigte Scherrer auf diese Weise, welch kühne Harmonien Derungs ersann, wenn er sich «unbeobachtet» fühlte.

Es wäre falsch, das weitere Programm musikalisch harmloser zu nennen. Aber nach Derungs’ Farb-, Form- und Satzstärke erschien Knut Nysteds «Ave Maria» für Chor und Solovioline wie weichgezeichnet. Leichter vorzutragen war das Werk sicher nicht; Sologeiger Christian Barenius tat es mit Verve, der Chor mit Grandezza. Die Lieder von Edvard Grieg und Gustaf Nordqvist streichelten die Seele ebenso. Lars Søraas’ «Det lyser i stille grender» trug uns in die leuchtenden Gassen Bethlehems, Toivo Kuulas «Auringon noustessa» zurück in den Schnee. Tolles Konzert, fantastischer Chor, endloser Beifall. Leider sind die Konzerte heute und morgen Abend bereits ausverkauft.

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