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Ein Haus geht auf Wanderschaft

Sie sieht aus wie ein englisches Landhaus aus einem Rosamunde-Pilcher-Film. Die aktuelle Stadtvilla unserer Serie «Ich bau mir ein Schloss» hat eine bewegte Geschichte hinter sich – im wahrsten Sinne des Wortes.

Ruth
Spitzenpfeil
09.02.18 - 17:37 Uhr
Kultur

Heute muss man es suchen, das Haus «Villino». So heisst es in der Bauinschrift. Bekannter ist das stattliche Anwesen unter dem Namen «Villa Marko » gemäss dem Namen der langjährigen Besitzerfamilie. Man biegt in die kleine Aquasanastrasse ein, und rechter Hand liegt es dann da: ein romantisches englisches Landhaus wie aus einer Folge der TV-Serie «Rosamunde Pilcher». Es ist noch gar nicht so lange her, da hatte die Villa eine ganz andere Adresse, nämlich Gäuggelistrasse, Hausnummer 25. Kann ein Haus «zügeln»? Ja, das geht, und die Aktion war im Mai 1995 Stadtgespräch in Chur. Wie und warum das geschah, dazu später mehr.

Weit gereiste Stube

Ein Grund, warum die Villa nicht abgerissen, sondern aufwendig verschoben wurde, liegt im Innern verborgen. Es ist ein überaus prachtvolles Zimmer mit einem Täfer aus Eschenund Nussbaum, der mit feinsten Intarsien verziert ist. Diese wertvolle Stube hatte selbst schon eine abenteuerliche Reise hinter sich, als sie 1911 in das Wohnhaus eingebaut wurde. Sie stammt aus dem Haus des bedeutenden Ilanzer Adelsgeschlechts Schmid von Grüneck am Obertor in Ilanz. An einer Fensternische sieht man die Jahreszahl 1674, in der die hervorragende Handwerksarbeit entstanden sein dür e. Zuvor soll sie auch schon einmal nach Deutschland geschaft worden sein, heisst es.

Einbauen liess sich das Kunstwerk ein Albert Caflisch, der zu der berühmten, aus Trin stammenden Zuckerbäckerdynastie gehören dürfte. Er war jedoch nicht der erste Besitzer der Villa. Errichten liess diese sich nämlich der Churer Ratsherr und Bankdirektor Albert Bavier zwischen 1871 und 1876. Es könnte gut sein, das dieser damit die in der gleichen Zeit entstandene Villa Planta, das heutige Bündner Kunstmuseum, konkurrenzieren wollte. Während jener Bau noch dem klassischen Schema der Neurenaissance anhängt, zeigt Baviers Villa schon deutlich den damals gerade in Mode kommenden englischen Landhausstil – samt Riegelwerk, Veranda und Turm. Die Villa wechselte dann noch einige Male die Hände, gehörte etwa einem Metzgermeister und schliesslich ab 1952 der Familie Marko . Im Erdgeschoss war später eine Zahnarztpaxis untergebracht.

Haus auf Schienen

Mitte der Neunzigerjahre griff dann das Architekturbüro Domenig zu, das es natürlich auch auf das riesige Grundstück an bester Lage abgesehen hatte. Die Villa stand damals inmitten eines Gartens, aber doch so platziert, dass man mit der umgebenden Fläche nicht so viel anfangen konnte. Abreissen kam nicht infrage; da legte der

Denkmalschutz nicht zuletzt wegen der Ilanzer Stube sein Veto ein. Weil die Bauunternehmung aber vorne an der Gäuggelistrasse eine grössere Überbauung mit Geschäften, Büros und rund einem Dutzend Wohnungen plante, entschloss man sich kurzerhand, das 120-jährige Gebäude zu verschieben.

Die Vorgängerin der «Südostschweiz», die «Bündner Zeitung», berichtete damals ausführlich von der Aktion, die viele Schaulustige anlockte. Die 22 Meter lange, 15 Meter breite und 18 Meter hohe Villa wurde rundherum ausgegraben und auf massiv armierte Betonträger gestellt. Sodann wurde es über Schienen auf 200 Eisenrollen 15 Meter schräg nach hinten an die neue Adresse Aquasanastrasse 8 verschoben. Drei Stunden dauerte die Fahrt des 2800 Tonnen schweren Kolosses am 3. Mai 1995. Für Chur war das eine spektakuläre Angelegenheit. Aber das Verfahren war damals keinesfalls neu. Die ausführende Firma Josef Iten aus Oberägeri hatte so etwas schon mehr als 200-mal gemacht.

Die neuen Besitzer scheuten auch sonst keine Mühen, die Villa nach allen Regeln denkmalpflegerischer Kunst wieder herzurichten. Heute gibt es drei Mietwohnungen im verwinkelten Dachgeschoss; im ersten Stock arbeitet ein Treuhandbüro. Das herrschaftliche Parterre nutzt nach dem Auszug einer Anwaltskanzlei seit 2006 die Privatbank Notenstein La Roche. Und die vermögende Kundschaft wird zur diskreten Behandlung ihrer Geldangelegenheiten gerne auch in die Ilanzer Stube gebeten.


 

 

Ruth Spitzenpfeil ist Kulturredaktorin der «Südostschweiz» und betreut mit einem kleinen Pensum auch regionale Themen, die sich nicht selten um historische Bauten drehen. Die Wahl-St.-Moritzerin entschloss sich nach einer langen Karriere in der Zürcher Medienwelt 2017, ihr Tätigkeitsfeld ganz nach Graubünden zu verlegen. Mehr Infos

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