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Hallimasch: auf dem Friedhof der Bäume zu Hause

Auf den Spuren des grössten bekannten Lebewesens Europas.

Bündner Woche
04.10.24 - 04:30 Uhr
Klima & Natur

von Lara Buchli

Überall wo man hinblickt, erstreckt sich die wunderschöne Landschaft des Ofenpassgebiets. Hohe Berggipfel greifen in den Himmel und sind mit Schnee überdeckt. Wie Puderzucker. Es ist Herbst und doch hat sich der Winter bereits angeschlichen. Hier unten bekommt man davon jedoch nichts mit. Hier – im Schweizerischen Nationalpark. Die milde Herbstsonne bahnt sich ihren Weg durch die Wolken und wärmt die noch immer grüne Wiese und den dichten Wald auf. Wenn man genau hinschaut, entdeckt man zahlreiche Bäume, die aufrecht stehen, aber ganz kahl und vertrocknet wirken. Doch so leblos wie sie erscheinen, sind sie nicht: In ihnen lebt der Hallimasch. 

Das grösste bisher bekannte Lebewesen Europas. Hier, im Schweizerischen Nationalpark, haust ein ganz besonderes Exemplar. Mit seinen beeindruckenden 800 Meter langen Pilzfäden, die sich über ein weitläufiges Gebiet von rund 37 Hektaren erstrecken, was der Fläche von ungefähr 51 Fussballfeldern entspricht, zählt dieser Pilz zu den Giganten seiner Art. Tatsächlich handelt es sich hierbei aber nur um einen Pilz, doch dieses Individuum hat es faustdick hinter den Ohren. Sein Wachstum vollzieht sich hauptsächlich im Verborgenen, unter der Erde, wo er sich in einem weitverzweigten Netzwerk entfaltet. Der büschelartige Fruchtkörper, der nur an ausgewählten Orten zutage tritt, hat etwas Magisches an sich und guckt gelegentlich im feinen Licht des Herbstes hervor. In dieser Zeit blüht er auf und zeigt sich am ehesten im Mittelland, wo die Bedingungen für sein Wachstum ideal sind. Hier im tiefen Engadin, hoch oben auf dem Ofenpass, sind die Fruchtkörper hingegen eher rar gesät. Woran das liegt? Wahrscheinlich ist die Trockenheit in diesem Gebiet der Grund dafür, dass dieser aussergewöhnliche Pilz dort nur selten die Möglichkeit hat, sein Antlitz zu zeigen. Auch die Höhenlage spiele wohl eine Rolle, erklärt eine Nationalparkmitarbeiterin im Besucherzentrum in Zernez. Der Kontrast zwischen seiner verborgenen Pracht und der schroffen alpinen Landschaft macht ihn jedoch umso bemerkenswerter. Anstatt, dass er sich sexuell (anhand von Sporen) vermehrt, breitet er sich unterirdisch von Wurzel zu Wurzel aus. Dieses vegetative Wachstum macht, dass die Pilze sich klonen. 

Ein Riese bringt neues Leben hervor

Das Ausmass der Grösse des Hallimaschs hat zur Folge, dass er sich unter der Erde ein weitreichendes Netz von Pilzfäden ausbreitet. Der Pilz greift die Wurzeln von Bäumen an und beeinflusst deren Wasser- und Nährstoffaufnahme, was vor allem schwache oder alte Bäume betrifft. Der Riese fühlt sich besonders wohl im Nationalpark, wo die majestätischen Bäume in schier endlosen Wäldern stehen. Diese Regionen werden auch als Absterbe-Nester bezeichnet, da man hier häufig tote Bäume in charakteristischen Grüppchen antrifft, die eine melancholische, aber faszinierende Landschaft formen. Doch der Pilz spielt auch eine wichtige Rolle bei der Entstehung neuen Lebens. Indem die alten, geschwächten Bäume absterben, erhält der Wald eine wertvolle zweite Chance. Die entstehenden Lichtungen bieten den Jungbäumen den nötigen Raum, um sich auszubreiten und zu gedeihen. Zwar überleben nicht alle von ihnen, doch die neu geschaffenen Bedingungen ermöglichen es den Jungbäumen, sich aus dem Grab zu erheben und den frisch gewonnenen Platz mit neuem Leben zu füllen. Diese dynamischen Veränderungen im Ökosystem schaffen nicht nur eine beeindruckende Szenerie, sondern fördern auch die Biodiversität und das Wachstum des Waldes für kommende Generationen. 

Doch neben seiner beeindruckenden Grösse ist er auch der älteste Pilz seiner Art. Mit seinen 1000 Jahren auf dem Buckel hätte er bestimmt einiges zu erzählen. 

Der Fluss Ova dal Fuorn rauscht angenehm neben dem Weg her und in der Weite kann man einige Vögel lautstark miteinander diskutieren hören. Auch aus dem Wald ertönen ungewohnte Geräusche. Was das wohl sein könnte? Der Hallimasch und seine Pilz-Genossen sind nicht alleine. Der Schweizerische Nationalpark bietet Schutz und Zuflucht für eine Menge Lebewesen. Zum Beispiel Hirsche, Gämsen, Bartgeier und Adler teilen sich ihr malerisches Zuhause auf dem Ofenpass, wo die majestätischen Berge und dichten Wälder eine idyllische Kulisse bieten. Das «Büwo»-Team verlässt den geheimnisvollen Friedhof, der sich schaurig, aber faszinierend um den Hallimasch erstreckt. Während wir in Richtung Parkplatz schlendern, entdecken wir immer wieder kleine, neugierige Pilzköpfe, die sich aus dem Boden recken – leuchtend weisse oder zarte hellbraune Färbungen, die im sanften Licht der Natur schimmern. Es ist, als ob die Erde selbst lebendig wird, und die kleinen Bewohner des Waldes sie mit ihren unschuldigen Blicken beobachten. Jeder Schritt bringt uns näher zur Zivilisation, während die unberührte Schönheit der Wildnis uns begleitet und an die Wunder erinnert, die in dieser unberührten Landschaft verborgen liegen. 

Weitere Informationen zum riesigen Hallimasch und dem Ökosystem im Nationalpark gibt es unter: www.nationalpark.ch

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