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«Die Situation ist etwas unheimlicher geworden»

Der Linthkanal, das erste nationale Werk, feiert dieses Jahr sein 200-Jahr-Jubiläum. Linthingenieur Markus Jud blickt voraus auf die Feierlichkeiten – und die Zukunft der Linth.

Fabio
Wyss
03.01.23 - 14:36 Uhr
Ereignisse
Erfahren: Seit 1999 ist Markus Jud Linthingenieur.
Erfahren: Seit 1999 ist Markus Jud Linthingenieur.
Bild Markus Timo Rüegg

Abgesehen von ein paar kleinen Wirbeln zieht die Linth in Benken völlig ruhig an Markus Jud vorbei. Kaum einer kennt den Kanal so gut wie der Linthingenieur. Kurz vor dem Jahrhunderthochwasser 1999 wurde der heute 57-Jährige zum «Monsieur Linth». Wobei, der richtige «Monsieur Linth» bleibt natürlich Johann Konrad Escher, der 1807 begann, die Ebene zwischen Mollis, Weesen und dem Obersee trockenzulegen. Escher selig ist auch Grund für das «Linth-Zeitung»-Interview mit Jud. Denn im 2023 jährt sich der Todestag des Linthpioniers zum 200. Mal. Ebenfalls vor exakt 200 Jahren wurde das fertige Linth­werk den Kantonen übertragen. Wie und warum dieses doppelte Jubiläum im neuen Jahr ausgiebig gefeiert wird, erklärt Jud.

Markus Jud, was wäre heute das Linthgebiet ohne das Linth­werk?

Das ist schwierig zu sagen. Einfach nichts zu tun, war damals vor über 200 Jahren keine Option. Die Linth floss vom Glarnerland direkt in den Obersee. Ohne das Konzept des Linthwerks müsste die Linth heute eine viel grössere Abflussmenge abführen, zudem hätte wohl ein grosser Geschiebesammler gebaut werden müssen.

Weil der Walensee als Ausgleichsbecken wegfällt.

Genau. Das war die verrückte Idee: die Glarner Linth umzuleiten in den Walensee. Das dämpft den Wasserpegel des Linthkanals zwischen Weesen und dem Obersee. Es gibt dort nunmehr bei Hochwasser keine kurzen Spitzen mit Höchstwerten. Sondern das Wasservolumen aus dem Glarnerland fliesst zuerst in den Walensee (siehe Grafik; Anm. d. Red.). Dadurch verteilt sich die Abflussmenge in den Linthkanal über einen viel längeren Zeitraum.

Das heisst: Hätte man nichts gemacht, hätte das Gebiet für unbewohnbar erklärt werden müssen?

Das hätte man nicht gemacht. Die Leute wussten sich zu helfen. Auch der Rhein im Rheintal oder die Aare wurden korrigiert. Aber kontrafaktische Geschichte ist immer schwierig. Die Nähe zu Zürich und die damalige Bedeutung der Schifffahrt darf man nicht vergessen. Die Eisenbahn ist erst um 1855, Jahrzehnte nach Eschers Bau des Linthwerks, in die Region gekommen. Als das Linthwerk geplant wurde, konnte man das noch gar nicht erahnen.

Nun steht im kommenden Jahr das 200-jährige Bestehen des Linthwerks an. Gleichzeitig jährt sich Hans Konrad Eschers Todestag zum 200. Mal. Wie wird das gefeiert?

Für den Todestag von Escher wird eine Gedenkfeier organisiert. Diese wird in Schänis gefeiert, wo Escher gegen Ende gelebt hat. Für die 200-Jahr-Feier des Linthwerks investieren wir die Energie in die Linthwerkschau. Dort wird es im Sommer sicher Tage des offenen Museums geben.

Also wird nicht gerade der Bundesrat eingeladen?

Doch, doch. Das probieren wir schon. Den zuständigen Bundesrat Albert Rösti werden wir sicher anfragen.

Sie haben das Museum angesprochen. Dafür werden 645 000 Franken in die Hand genommen. Ganz schön viel Geld. Was haben Sie vor?

Das sind die Gesamtkosten für den Umbau eines Magazins zu einer Ausstellung. Davon werden Stand heute rund 540 000 Franken von Dritten übernommen. Und zwar von den Kantonen mit ihren Lotterie- und Kulturfonds sowie Stiftungen und privaten Gönnern. Unterhalb des historischen Grynauturms entsteht so für die hiesige Bevölkerung und externe Besucherinnen und Besucher die Linth­werkschau. Neben der Geschichte des Linthwerks zeigt diese dauerhafte Ausstellung die zeitgemässe Wasserbauphilosophie mit dem naturnahen Wasserbau.

Die Linthwerkschau wird öffentlich zugänglich. Dauerhaftes Personal vor Ort ist nicht angedacht. Haben Sie keine Sicherheitsbedenken?

Wir behalten das im Auge. Die Ausstellung muss diebstahlsicher und vor Vandalismus geschützt werden. Wobei, an der Linth herrscht eigentlich immer Ordnung. Und das, obschon im Sommer in der Grynau oder in Weesen enorm viele Leute unterwegs sind. Wir wollen mit der Linthwerkschau etwas Schönes, Wertiges machen – in der Überzeugung, dass die Leute davor den nötigen Respekt haben.

Und was erhoffen Sie sich von der Investition?

Wir stellen fest, dass die Linthebene für viele Leute einfach Durchfahrtsland ist. Vom Aargau oder von Zürich fährt man ins Bündnerland und wieder zurück. In der Hoffnung, nicht in einen Stau zu geraten. Was an der Linth fehlt, ist ein Anziehungspunkt. Das liegt in der Natur der Sache, denn die Linth liegt an den Rändern dreier Kantone.

Sie wollen ein Zentrum der Linth.

Genau. Das Linthwerk kann man schön finden oder nicht, aber es hat eine spezielle nationale Bedeutung. Es ist das erste nationale Werk. Viele interessierte Vereine kommen zum Teil mit Cars an die Linth. Darum wollen wir eine Anlaufstelle. Die Grynau kurz vor Einmündung in den Obersee wird nun ein Orientierungspunkt.

Sie erwähnten die Bedeutung des Linthwerks. Welche Errungenschaft erstaunt Sie mit Blick auf dessen Geschichte heute noch am meisten?

Das Faszinierende ist, dass das Werk gebaut wurde in extremen politischen Umbruchzeiten mit Kriegen. Die ersten Vorschläge machte im Jahr 1783 Ingenieur Andreas Lanz im Auftrag der Tagsatzung. Also noch vor der Französischen Revolution. 1823 ist das Linthwerk den Kantonen übergeben worden. In diese Zeitspanne fiel die alte Eidgenossenschaft, die Helvetische Republik und die Mediationszeit. Während dieser verrückten Zeit waren sie da draussen immer am Schaufeln. Das geht gerne vergessen, wenn wir heute jammern. Das Linthwerk ist «Nation building». Und dessen Geschichte wurde immer wieder als Sinnbild verwendet: Miteinander hat die Gesellschaft etwas erreicht.

Historisch wird das Linthwerk mit der Neat verglichen. Haben Sie das Gefühl, in der Region ist man sich dessen Bedeutung bewusst?

Ja ich denke schon.

Also auch die jüngere Generation?

(Schmunzelt.) Man meint immer, die Jüngeren kriegen das nicht mit. Lange nehmen sie dieses Wissen vielleicht nur passiv auf. Wir gingen damals mit der Schule ans Escherdenkmal. Irgendwann im Erwachsenenalter interessiert man sich dann vertiefter. Darum wird das Bewusstsein für die Bedeutung des Linthwerks bleiben.

Eine davon ist die massive Verbesserung der Lebensbedingungen in der Region.

Die Natur bedrohte damals den Menschen – und nicht umgekehrt. Schon während der Linthkorrektion verbesserten sich die Lebensbedingungen. Eschers Linthunternehmung ermöglichte bis zu 750 Arbeitern und somit auch ihren Familien einen guten Verdienst. Das zwischen 1750 und 1850 überschwemmte und versumpfte Land kann seither wieder für die Landwirtschaft genutzt werden. Auch die Verkehrsverhältnisse verbesserten sich markant.

Wie?

Der Linthkanal bot einen viel kürzeren Weg für die Schifffahrt. Der Bahnbau ab 1850 und der Strassenbau am Walensee im letzten Jahrhundert wären ohne die Linthkorrektion nicht oder nur erschwert möglich gewesen. Nicht zuletzt verschwanden Wechsel- und Fleckfieber, welche die Bevölkerung geplagt hatten.

Weil die Sümpfe und Moore verschwanden. Heute spricht man von einer Biodiversitätskrise. Ist das die Schattenseite des Hochwasserschutzes?

Ja, das kann man so sagen. Wobei nicht nur das Linthwerk, sondern auch die folgende Melioration der Linthebene dazu führte. Diese Entwicklung wird durch das Wasserbaugesetz des Bundes nun korrigiert. Reine Kanalisierungen sind im modernen Hochwasserschutz verboten. Nun sind Renaturierungen feste Bestandteile. Das zeigt sich bei unserem 2013 abgeschlossenen Projekt Hochwasserschutz Linth 2000. So trägt das Linthwerk heute viel zu einer vielfältigen Flora und Fauna bei. Das Ziel war ja auch: Mehr Sicherheit, mehr Natur, mehr Erholung.

Sie hätten die Gesamtsanierung der Linth gerne naturnaher gestaltet. Weshalb ging das nicht?

Mit dem Projekt Hochwasserschutz Linth 2000 wurden die ersten Erfahrungen einer Gesamtsanierung gemacht. Das Projekt ist darum ein Kind seiner Zeit. Der Druck auf das Land ist in der Schweiz gross. Entsprechend steht eine Revitalisierung in Konkurrenz zu anderen Nutzungen. Man darf beispielsweise auch die Hochspannungsleitungen entlang der Linth nicht vergessen; diese engen stark ein. Generell musste sich der naturnahe Wasserbau vor allem in der Linthebene zuerst noch etablieren. Die vielen Spaziergänger, Velofahrer und Böötler zeigen nun die hohe Akzeptanz der Massnahmen.

Das Hochwasserprojekt hat damals durch die Ereignisse 1999 und 2005 an Dringlichkeit gewonnen. Sie waren in jener Zeit neuer Linthingenieur. Was haben Sie für Erinnerungen?

Ich weiss noch gut, wie es 1999 losging. Ich fuhr mit dem Auto durch den Regen ins Glarnerland. Bei der Raststätte Glarnerland spürte ich: Jetzt ist der Mensch klein und die Natur gross. Normalerweise macht der Mensch etwas und die Natur ist «de arm Cheib». Zum Beispiel bei der vorher erwähnten Biodiversität. Doch damals zeigte sich die Kraft der Natur. Obwohl es erst gerade angefangen hatte zu regnen, ahnte ich, dass etwas Grosses kommt. Es folgten drei Wochen Dauereinsatz mit vielen sehr motivierten Leuten. Dieses Engagement von Feuerwehren, Zivilschutzorganisationen und Bauunternehmern vergesse ich nicht mehr.

Über 360 Kubikmeter pro Sekunde flossen durch den Linthkanal. Was würde das heute bedeuten?

Das ist ein hundertjähriges Hochwasser. Jetzt ist der Linthkanal zwar darauf ausgebaut. Das heisst aber nicht, dass die ganze Organisation der Linthverwaltung bei einem solchen Ereignis nichts mehr zu tun hat.

Ruhig schlafen würden Sie also nicht?

Nein. Aktuell beschäftigt uns der Biber. Dieser hat sich seit den letzten paar Jahren in unserer Region vermehrt – vor allem entlang des Linthkanals. Wenn der Biber einen Bau im Hauptdamm machen würde, kann dieser instabil werden, weil Wasser hineinfliessen kann. Jetzt im Winter, wenn der Wasserstand tief ist, kontrollieren die Linthaufseher die Abschnitte, wo der Biber vorkommt, auf mögliche Bauten in den Dämmen.

2021 weilten Sie im Urlaub, als die Pegel in der Region bis auf 200 Kubikmeter pro Sekunde anschwollen. Konnten Sie sich trotzdem entspannen?

Ja, dank der guten Organisation. Ich habe dem stellvertretenden Linthingenieur Ralph Jud eine SMS geschrieben. Er solle gut zur Linth schauen. Die Antwort war: «Mach ich.» Das wars. Zu zweit funktioniert das tipptopp. Die Linthverwaltung ist ja seit 2020 in Benken und war davor in Lachen. Der damalige Linthkommissionspräsident Marc Mächler wollte, dass im Linthgebiet immer jemand zur Verfügung steht. Das hat sich bislang bewährt.

Sie sind zu 50 Prozent angestellt, Ihr Stellvertreter zu 80 Prozent. Sind diese Ressourcen überhaupt nötig?

Schon in der Zeit nach Hans Konrad Escher musste immer wieder nachgeflickt werden. Auch wir müssen ständig justieren. Die Organisation ist zudem so ausgelegt, dass während 365 Tagen im Jahr immer ein Ingenieur da ist, wenn ein Hochwasser oder ein Sturm kommt. Deshalb braucht es die Organisation. So wie wir jetzt aufgestellt sind, funktioniert das gut. Auch dank der Zusammenarbeit mit dem Rheinunternehmen.

Inwiefern?

Dadurch haben wir Synergien. In Maienfeld und Bad Ragaz ist aktuell eine Rheinaufweitung im Gang. Dort übernehme ich die Projektleitung.

Wegen der Erfahrung durch das Projekt Linth 2000?

Ich denke ja. Gleichzeitig profitieren wir vom Know-how des Rheinunternehmens, das für uns die Notfallplanung erstellt.

Apropos Notfälle: Treten solche künftig öfters ein? Prognosen zeigen, dass durch den Klimawandel die Linth künftig voraussichtlich im Winter deutlich mehr und im Sommer deutlich weniger Wasser führen wird. Was bedeutet das für kommende Generationen?

Man sagt, pro Grad steigt die Luftfeuchtigkeit um 7 Prozent. Schon jetzt haben wir zwei Grad mehr. Also haben wir schon deutlich mehr Feuchtigkeit in der Atmosphäre. Das zeigte sich bei den starken Hagelniederschlägen im Sommer 2021. Die höhere Nullgradgrenze führt zu einer verlängerten Hochwassersaison bis in den Spätherbst. Gleichzeitig führen die wärmeren Temperaturen aber auch dazu, dass weniger Schnee fällt.

Das würde wiederum weniger Schmelzwasser und ein geringeres Hochwasserrisiko bedeuten.

Ja. Es kann aber auch wegen der hohen Luftfeuchtigkeit viel mehr Schnee geben. Eine verlässliche Prognose, wie sich der Klimawandel auf das Linth­werk auswirkt, ist noch nicht möglich. Unklar ist gemäss den Forschern des WSL-Instituts der ETH auch, ob die gleiche Situation wie 1999 öfters eintreffen kann. Das ist die für unsere Region gefährlichste Wetterlage.

Was ist daran speziell?

Die Wetterlage wird als Vb bezeichnet. Vom Süden kommt ein Genuatief, welches feuchte Luft zu uns schaufelt. Von Norden kommt dann kalte Luft zurück. Diese Wetterlage kann im Sommer und im Winter auftreten. Vielleicht kommt sie künftig öfters, vielleicht nicht. Generell ist die Situation aber etwas unheimlicher geworden. Wir müssen das Ganze sicher weiterhin im Auge behalten.

Zur Person
Als «ein Kind der Linthebene» bezeichnet sich Markus Jud selber.
Der 57-Jährige ist Sohn einer Glarnerin und eines Gasterländers. Als Kind besuchte er das Linth-Escher-Schulhaus in Niederurnen – und spricht einen dezenten Glarnerdialekt. Seit bald einem Vierteljahrhundert ist der Familienvater Linthingenieur. Vor drei Jahren ist die Linthverwaltung reorganisiert worden. Jud arbeitet seither zu 50 Prozent in Benken. Daneben ist der studierte Bauingenieur als Projektleiter und Bauherrenberater bei der P. Meier & Partner AG in Lachen tätig, wo er zudem Verwaltungsratsmitglied ist.

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