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«Das wird eine Grenzerfahrung – für jeden»

Der Joner Oliver Heer will schaffen, was noch kein Deutschschweizer vor ihm schaffte: an der Vendée Globe ins Ziel kommen. Dabei hat der 34-Jährigen vor Gutes für den Planeten zu tun.

Fabio
Wyss
27.05.22 - 17:48 Uhr
Ereignisse
Joner will allein um die Welt segeln: Oliver Heer plant die Teilnahme an der härtesten Segelregatta der Welt – der Vendée Globe.
Joner will allein um die Welt segeln: Oliver Heer plant die Teilnahme an der härtesten Segelregatta der Welt – der Vendée Globe.
Pressebild

Als vierjähriger Bub drehte Oliver Heer in der Kempratner Bucht seine ersten Runden im Segelboot. Das war Anfang der Neunziger. Der Blondschopf ist seither um die Welt gekommen. Die nun stattfindenden Schweizermeisterschaften auf dem Zürichsee sind für den Profisegler eine Art Rückkehr. Der 34-Jährige regattiert mit einem Investor. Aber ohne Ambitionen. Nur aus Plausch. Heer hat Grösseres vor. Das Grösste, das es gibt in diesem Sport: die Vendée Globe. Einmal um den Globus – und das ganz allein. Der Joner will 2024 als erster Deutschschweizer die härteste Regatta der Welt bestreiten.

Oliver Heer, wie wichtig ist Ihnen genügend Schlaf?

Oliver Heer: Sehr wichtig. Aber genügend ist sehr relativ (schmunzelt).

An der Vendée Globe entscheiden für gut drei Monate Wind und Wetter über Ihren Schlafrhythmus.

Das ist so. Wenn ich allein segle, schlafe ich nicht länger als 20 bis 30 Minuten am Stück. Also nur kleine Powernaps. Ich will gar nicht in die Tiefschlafphase kommen. Denn da braucht es Stunden, um sich zu erholen. Mit den Powernaps reichen aber sechs bis acht Mal eine halbe Stunde pro Tag, um kognitiv gut zu funktionieren. Ohnehin gibt es auf dem Meer nicht wirklich Tag und Nacht.

Das heisst: Sie haben schon geübt?

Ja, aber nicht drei Monate lang. Etwas mehr als 30 Tage am Stück bin ich schon so gesegelt. Die Umstellung vom normalen Schlafrhythmus braucht rund fünf Tage. Diese Zeit ist hart. Danach hat sich der Körper aber daran gewöhnt. Zurück an Land braucht es dann wieder ein paar Tage, bis man wieder durchschlafen kann.

Wie ein Jetlag?

Genau. Meine Frau schickt mich dann jeweils ins Gästezimmer für die ersten paar Nächte (lacht).

2024 wollen Sie mit dem Boot allein um den Globus segeln – was treibt Sie an, bei der Vendée Globe mitzumachen?

Für mich ist die Vendée Globe ein Traum, seit ich ein kleines Kind bin. Ich kann mich noch an die Teilnahmen von Dominique Wavre erinnern (2001 hat Wavre als erster Schweizer die Vendée Globe bestritten; Anm. d. Red.). Jetzt bin ich in einer Situation, wo ich selber ein Projekt starten kann. Das verlangt seglerisch, psychisch und menschlich alles ab. Es ist die ultimative Herausforderung: Über 5000 Menschen waren auf dem Mount Everest, über 500 im All. Aber bis heute haben nur 114 Leute die Vendée Globe fertig segeln können.

Wie hat Ihr Umfeld reagiert, als Sie gesagt haben, dass Sie diesem exklusiven Kreis angehören wollen?

Äusserst positiv. Vor gut einem Jahr habe ich mich entschieden, das Projekt zu starten. Ich habe mir das sehr gut überlegt. Davor habe ich mit vielen erfahrenen Seglern gesprochen, mit denen ich die letzten vier Jahre als Profi unterwegs war. Sie bestärkten mich und sagten, dass sie mir das zutrauen. Bevor ich mich aber mit 110 Prozent in das Vendée-Globe-Projekt stürzte, musste ich meine Frau und meine Mutter um Erlaubnis fragen.

Gab es auch Stimmen, die gesagt haben, Sie seien ein Spinner?

Im engeren Kreis nicht. Jene, die mich kennen, wissen, dass ich eine kontrollierte, professionelle Person bin. Und das nicht planlos mache. Aber ich habe auch schon von Leuten gehört, welche die Vendée Globe für ein unnötiges Risiko halten.

Was sagen Sie denen?

Am Schluss ist alles eine Frage des Risk-Managements. Für mich steht Verlässlichkeit an oberster Stelle. Wenn ich mich gut vorbereite, ist das Unterfangen nicht äusserst risikoreich.

Was bringen Sie an Erfahrungen dafür mit, um sich dabei so sicher zu sein?

Die letzten vier Jahre bin ich im Team von Hugo Boss gesegelt. Ich hatte als Boat Captain die technische Verantwortung und war Ersatz für Skipper Alex Thomson. Er ist nicht nur mein Chef, sondern auch mein Mentor. Er hat selber schon fünfmal an der Vendée Globe teilgenommen. Von ihm habe ich sehr viel gelernt. Von all den Dingen, die gut liefen und noch wichtiger: von den Fehlern. Das bringt mich in eine einmalige Position. Zumal ich in den letzten vier Jahren auch schon 50 000 Seemeilen segelte – das ist auch zweimal um die Welt.

Trotzdem sind bislang bloss 114 Seglerinnen und Segler ins Ziel gekommen.

Die Ausfallrate beträgt seit der ersten Austragung 1989 fast 50 Prozent. Der Fehler, wenn jemand aufgeben muss, passiert meistens davor.

Ein Materialfehler in der Vorbereitung?

Genau. Ein zu leicht gebautes Schiff, nicht genügend Ersatzteile dabei oder etwas anderes. Für mich ist es deshalb extrem wichtig, in den nächsten zweieinhalb Jahren das Schiff auf Herz und Nieren zu prüfen. Bis ich im November 2024 an den Start gehe, will ich genau wissen, was das Schiff aushält. Dafür trainieren wir viel bei schlechten Bedingungen.

Bekanntlich ist die Regatta auch eine Materialschlacht. Wie teuer ist Ihr Schiff?

Vor sechs Wochen habe ich in der Bretagne mein Schiff gekauft. Das Schiff kostete 730 000 Euro ohne Mehrwertkosten.

Und was taugt es?

Es ist ein älteres und sehr verlässliches Boot. Es ist etwas schwerer und solider, dafür nicht ganz so schnell. Das ist immer die grosse Frage: Wählt man ein leichtes und schnelles Boot, ist aber anfällig? Oder setzt man auf Verlässlichkeit? Bei meiner ersten Austragung geht es für mich nur darum, ins Ziel zu kommen. Entsprechend habe ich mein Boot ausgewählt. So haben wir aber bei der ersten Teilnahme zwar kaum Gewinnchancen. Aber die Vendée Globe ist nicht etwas, das ich nur einmal mache und nachher wieder aussteige.

Sondern?

Der Altersschnitt beträgt 43. Ich bin 33. Wenn alles nach Plan läuft, ist das Segeln mein Leben für die nächsten 10 bis 20 Jahre.

Das gesamte Unterfangen dürfte einiges kosten. Mit was rechnen Sie?

Idealerweise kommen wir auf ein Budget von 2 Millionen Franken pro Jahr. Mit 1,5 Millionen Franken würde es notfalls auch gehen. Wir haben für die Finanzierung eine Art Gönnerverein für die vielen KMU rund um den Zürichsee aufgegleist. Als Hauptsponsor kommen wohl eher globale Firmen infrage.

Sie sprechen viel in der Wir-Form – obschon Sie allein segeln. Was braucht es denn alles im Hintergrund?

Momentan sind wir sechs Leute. Ab Januar sollen es zwölf sein. Fifty-fifty: die einen auf der technischen Seite und am Segeln mit mir; die anderen im Back-Office für PR, Marketing, Finanzen etc. Ich vergleiche uns mit einem kleinen Formel-1-Team. Klassischer Einzelsport ist es definitiv nicht. Auch wenn ich Ende 2024 der bin, der in drei Monaten um die Welt segeln wird.

Wie trainieren Sie eigentlich, so lange Zeit auf sich allein gestellt zu sein?

Ich arbeite mit Mentalcoaches und Sportpsychologen zusammen. Auch wenn ich eine gute Fitness brauche, ist am Schluss alles Kopfsache. Ich habe das bei Alex Thomson gesehen: Bei seiner letzten Teilnahme war ich vier Minuten vor dem Start noch mit ihm auf dem Boot. Wenn du dann aber allein aus dem Hafen rausfährst, wird dir bewusst, was du jetzt gerade machst. Du weisst, egal, was passiert: Das wird eine Grenzerfahrung – für jeden. Nichts kommt an die Vendée Globe heran. Drei Monate allein auf dem Boot zu sein, ist ein sehr starker Kontrast zu unserer heutigen schnelllebigen Welt, in der ständig kommuniziert wird. Das ist einer der Hauptgründe, wieso ich überhaupt mitmachen will.

Und was sind andere Gründe?

Das gesamte Projekt steht unter dem Aspekt der «Sustainability» (Nachhaltigkeit, Anm. d. Red.). Ich habe die letzten acht Jahre mehr Zeit auf dem Wasser als an Land verbracht. Ich sehe aus erster Hand, dass mit unserem Planeten etwas nicht stimmt. Ich kann zwar nicht sagen, dass die Meerestemperatur um so und so viel Grad gestiegen ist, dass die Biodiversität abgenommen hat oder dass Plastik herumschwimmt. Aber was ich sehe, ist: Das Wetter hat sich verändert. Es gibt viel extremere Wettersysteme zu Jahreszeiten, in denen diese gar nicht vorkommen sollten.

Wie wollen Sie den Klimawandel mit Ihrer Kampagne verknüpfen?

Wir haben eine Nachhaltigkeitsstrategie mit drei Säulen aufgebaut: Erstens werden wir unseren CO2-Fussabdruck minimieren. Wir wollen das erste professionelle Segelteam sein, das komplett klimaneutral unterwegs ist. Zweitens wollen wir mit führenden technischen Universitäten der Schweiz zusammenarbeiten. Wir sammeln für sie seltene und wertvolle Umweltdaten vom Meer – bei Training, Regatta und natürlich auch der Vendée Globe. Gerade um die Antarktis herum sind diese Daten kaum verfügbar, mit einem Sensor an unserem Boot können wir aber für die Öffentlichkeit einen Mehrwert schaffen. Drittens soll unser Boot eine Art «Floating Lab» werden. Die Industrie und Hochschulen können auf unserem Boot erneuerbare Energien entwickeln, testen und promoten.

Als langfristiges Ziel geben Sie an, als erstes nicht französisches Boot die Vendée Globe gewinnen zu wollen. Wie soll das gehen?

Guter Punkt. Wie gesagt, gewinnen werden wir bei unserer ersten Teilnahme nicht. Das kurzfristige Ziel lautet deshalb: ins Ziel zu kommen. Aber ich bin ein sehr ambitionierter Mensch. Um lange hart zu arbeiten, braucht es eine Vision. Wenn man die richtigen Leute um sich herum hat, sich konstant verbessert und die finanziellen Mittel zur Verfügung stehen, können wir dereinst gewinnen.

Wie lange rechnen Sie eigentlich, bei der ersten Austragung unterwegs zu sein? Der Rekord liegt bei 74 Tagen. Der Genfer Alan Roura hat zuletzt bei seiner zweiten Teilnahme 95 Tage benötigt.

Die letzte Teilnahme war sehr langsam mit zwei, drei Windlöchern. Mit einer guten Regatta hoffe ich nach 85 oder 95 Tagen wieder im Ziel zu sein.

Hinweis: Nächsten Montag lanciert Oliver Heer seine Kampagne mit einer Veranstaltung in der «Rare Street Cafe Bar» in Rapperswil-Jona. Diese findet ab 19 bis 21 Uhr statt.

Allein bei Wind und Wetter: Oliver Heer will bei seiner ersten Teilnahme vor allem ans Ziel kommen. Pressebild
Allein bei Wind und Wetter: Oliver Heer will bei seiner ersten Teilnahme vor allem ans Ziel kommen. Pressebild

Die härteste Regatta: 44 448 Kilometer – und mehr
Wenn die Hälfte des Feldes nicht im Ziel ankommt, so ist das nichts Ungewöhnliches. Sondern courant normal an der Vendée Globe. Allein müssen die Teilnehmenden den Globus umrunden. 24  000 Seemeilen (44  448 Kilometer) gilt es zu absolvieren. Wobei: Damit die Segler auf guten Wind treffen, sind sie in der Realität schliesslich eher 50  000 Kilometer und mehr unterwegs – und das ohne Pause.
Die Annahme fremder Hilfe oder das Betreten von Land führt automatisch zum Ausscheiden. Darum nähte sich 1992 der Franzose Bertrand de Broc nach einer Verletzung selbstständig wieder die Zunge an, um weiterzusegeln. Er kam trotzdem nicht ins Ziel. Auch bei seiner zweiten Teilnahme musste er aufgeben. Dieses Schicksal ereilt viele erfahrene Segler – wie etwa auch den Genfer Bernard Stamm. Erfolglos jagte er dem Ziel der Vendée Globe hinterher: Zweimal musste er abbrechen. Bei der dritten Teilnahme wurde er disqualifiziert. Das war Ende 2012.
Just zu diesem Zeitpunkt machte es beim Joner Oliver Heer «Klick». «Ich war gerade in Taiwan am Studieren. Dann erhielt ich die Möglichkeit, profimässig zu segeln. Erstmals spürte ich, dass die Vendée Globe wirklich etwas sein könnte für mich», sagt er. Der 34-Jährige wäre erst der dritte Schweizer, dem eine erfolgreiche Teilnahme gelingen würde.
Zuletzt machte der Genfer Alan Roura auf sich aufmerksam. 2017 erreichte der damals 23-Jährige als jüngster Teilnehmer aller Zeiten das Ziel im französischen Les Sables-d’Olonne. Letztes Jahr schaffte er es, die Vendée Globe zu beenden, obwohl er das letzte Drittel der Strecke mit einem beschädigten Boot bewältigen musste. Ebenfalls aus Genf stammt der bislang erfolgreichste Schweizer Segler der Vendée Globe: Dominique Wavre, dreimal meisterte er sie. 2005 wurde er Vierter – mit vier Tagen Rückstand auf das Podest.
Alle vier Jahre findet die «härteste Segelregatta» – wie sie genannt wird – statt. Diese Bezeichnung erhält die Regatta nicht ohne Grund. So verläuft sie vorbei an den vier Kaps durch die stürmischen antarktischen Gewässer der Roaring Forties. In den Anfängen kam es gar zu tragischen Todesfällen. Drei Segler liessen bei der Vendée Globe ihr Leben – sie sind verschollen im Ozean.
Andere mussten teils in aufwendigen Rettungsaktionen gesucht werden. Das führte in der Szene zu einem Umdenken. Um die Jahrtausendwende herum mussten die Boote neue Anforderungen erfüllen: Bei einer Kenterung richten sich seither die Segelboote automatisch wieder auf.
Tatsächlich sind so tragische Ereignisse wie in den Neunzigern nicht mehr vorgekommen. Aber Abbrüche durch technische Defekte oder aus anderen Gründen kann es immer noch zahlreiche geben. Bei der letzten Austragung 2020/2021 schafften es mit 25 Booten aber so viele Seglerinnen und Segler ins Ziel wie noch nie. Bloss acht mussten aufgeben.
Damit im November 2024 mit Oliver Heer erstmals ein Deutschschweizer starten und im Frühjahr 2025 ins Ziel kommen kann, braucht es noch einiges. In den Jahren vor der Vendée Globe müssen sich die Teilnehmer in diversen grösseren Regatten qualifizieren. Dazu gehören transatlantische Wettkämpfe. Nicht mehr als 40 Boote dürfen schliesslich an den Start an der französischen Westküste.
Heer besitzt dafür aber beste Chancen. Sein Mentor, der Brite Alex Thomson, gehört zu den Legenden der Vendée Globe. Seine Bestzeit von 74 Tagen, 19 Stunden und 35 Minuten ist die zweitschnellste Zeit überhaupt. (wyf)

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