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Rapperswil-Jona im Bann der Skeptischen

Eine illegale Corona-Demo im Herzen der Altstadt: Rund 4000 Personen reisen dafür aus der ganzen Schweiz nach Rapperswil-Jona. Die Polizei spricht 45 Wegweisungen aus, alles in allem bleibt der Anlass aber friedlich. Nun kämpft aber ein bekannter Gastronom um sein Image.

Fabio
Wyss
26.04.21 - 04:30 Uhr
Ereignisse
Coronaskeptiker besetzen Rapperswiler Altstadt: Der Fischmarktplatz ist voll.
Coronaskeptiker besetzen Rapperswiler Altstadt: Der Fischmarktplatz ist voll.
BILD KEYSTONE

Ein Fahnenmeer auf dem Fischmarktplatz. Fast kein Kantonswappen, das fehlt. Die nicht bewilligte Corona-Demonstrantendemonstration lockte letzten Samstagnachmittag Tausende Menschen aus der ganzen Schweiz nach Rapperswil‑Jona. Das zeigt sich anhand der Nummernschilder der Fahrzeuge. Sie stehen im Zentrum, im Stampf, aber auch am anderen Ufer des Zürichsees in Pfäffikon. Zum Teil reisten sie gar mit dem Reisecar an. Einer davon wurde von der Polizei nicht in die Stadt gelassen.

Nicht nur die Herkunft der Demonstranten ist divers. Am Coronaprotest finden sich die unterschiedlichsten Vertreterinnen der Gesellschaft: Eine Frau mit Rastafrisur, gehüllt in Hippiekleidern und einem aufgenähten 5-G-Sticker, sie läuft neben glatzköpfigen Vorzeigepatrioten in Edelweisshemden mit. Daneben stehen Familien; der Vater im Karohemd, die Frau mit schicker Bluse, die Kinder tragen Markenkleider.

Gemein ist den Protestierenden der Verzicht auf die Maske. Nur ein paar Touristen tragen diese. Mit fragendem Blick zwängen sie sich ahnungslos durch die Masse hindurch. Diese ruft immer wieder «Liberté».

Auf einmal leert sich der Fischmarktplatz

Und dann eine kurze Ansage durch das Megafon: «Die Treichler werden beim Manor zurückgehalten. Kommt, wir holen sie ab!» Die Freiheitsliebenden marschieren in Richtung Cityplatz. Zwischenzeitlich kann dort kein Fahrzeug mehr die Kreuzung passieren. Bis der ganze Protestzug wieder über die verschiedensten Gassen zurückkehrt zum Fischmarktplatz.

Kostümiert: Die Coronademonstration in Rapperswil-Jona gleicht einem Fasnachtsumzug. BILD KEYSTONE
Kostümiert: Die Coronademonstration in Rapperswil-Jona gleicht einem Fasnachtsumzug. BILD KEYSTONE

Der ohrenbetäubende Lärm der Dutzenden Treichler wird unterstützt von Pfeifen und kleinen Glöckchen mit Schweizerkreuz. Beim Visitorcenter sind diese Souvenirs in den Stunden vor der Demo der Verkaufsschlager. Als sich nach 13 Uhr der Fischmarktplatz füllte, mussten die Verkäuferinnen die Touristeninformation schliessen. Weder die Maskenpflicht noch die Personenbeschränkung hielten die Besucher ein.

Ansonsten bleiben die Demonstranten friedlich. Sie beschenken die Polizeibeamten mit Blumen und versorgen sie mit Wasser. Es ist kein Zufall, auf dem Nachrichtenportal Telegram lautet die Weisung, sich so friedliebend wie möglich zu verhalten. Wenn ein Skinhead ein Hitlergruss macht, ermahnen ihn Kollegen, dies zu unterlassen.

«Schacher Seppli» von der «Dieci»-Terrasse

Alle werden still, als sich beim Restaurant «Dieci» ein Redner in Stellung bringt. Mit Megafon postiert er sich auf der Terrasse und spricht über das Covid-Gesetz. Später läuft die Nationalhymne und eine bundesratskritische Parodie des volkstümlichen Lieds «Schacher Seppli». Auf der dritten Etage des «Dieci» prangt gar ein Plakat der Corona-Demonstranten (wie es dazu kam, siehe Box).

Auf der dritten Etage des «Dieci» prangt  ein Plakat der Corona-Demonstranten. Bild Keystone
Auf der dritten Etage des «Dieci» prangt ein Plakat der Corona-Demonstranten. Bild Keystone

Die von der Polizei auf 4000 geschätzten Coronaskeptiker und Massnahmengegnerinnen zeigen sich ausdauernd: Die ersten schlendern schon seit den frühen Morgenstunden in der Rosenstadt herum. Der Grund: In einem Telegram-Chat kursiert das Gerücht, dass die Polizei ab 9 Uhr die Stadt abriegelt und eine frühe Anreise empfohlen wird.

Das passiert nicht, auch wenn die St. Galler Kantonspolizei tatsächlich schon am Vormittag in Rapperswil‑Jona eintrifft. Sie markiert in erster Linie Präsenz – mithilfe des Ostschweizer Polizeikonkordats kommt ein Grossaufgebot zustande.

Auf mehrere Hunderttausend Franken beziffert ein Polizeisprecher die Einsatzkosten (siehe Interview). Stadtpräsident Martin Stöckling lobt die Einsatzkräfte: Die Polizei habe abgewägt zwischen der Verhältnismässigkeit und habe das schonendste Mittel eingesetzt. «Die Demonstranten sind im Unrecht, wenn sie behaupten, dass sie den Rechtsstaat retten. Die Polizei bewies, dass dieser gelebt wird.»

Lernen, mit diesem «neuen Phänomen» zu leben

Dennoch bleibt Stöckling aufgewühlt zurück, ob der schieren Masse an Demonstranten. «Als Stadt müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass sich 4000 Personen nicht darum kümmern, ob der Stadtrat eine Bewilligung erteilt und von einer Teilnahme abrät. Mit diesem neuen Phänomen müssen wir lernen, umzugehen.»

Die Polizei schickt um 17 Uhr die ersten Teams in den Feierabend. Auf dem Fischmarktplatz verweilen dann nur noch ein paar Grüppchen. Die anderen Demo-Teilnehmer schwärmen in alle Richtungen aus.

In den Gassen überreden drei Skeptikerinnen eine alte Frau im Rollstuhl, dass sie ihre Maske abnehmen soll. Im Hintergrund hört man Hupkonzerte von Autos, welche die Stadt verlassen. Aus einer anderen Ecke johlt ein junger Mann ein letztes «Liberté» und torkelt davon.

Ein Redner spricht von der "Dieci"-Terasse zu der Masse. BILD KEYSTONE
Ein Redner spricht von der "Dieci"-Terasse zu der Masse. BILD KEYSTONE

Corona-Redner auf «Dieci»-Terrasse: Wirt wusste von nichts.  
Ein Protestplakat hängt aus dem Fenster des «Dieci» und ein Redner spricht mit dem Megafon von der Restaurantterrasse (siehe Bild) zu den Coronaskeptikern. Was sagt «Dieci»-Wirt Rocco Delli Colli dazu? «Die betreffenden Personen waren anfänglich aufgrund ihres Auftretens nicht als Exponenten der Aktion erkenntlich. Bei der ersten für uns sinnvollen Möglichkeit haben wir die Personen von unserer Terrasse verwiesen, was diese anstandslos akzeptierten.» Zum Plakat sagt Delli Colli: Ein Fremder habe sich in diese privaten Räumlichkeiten eingeschlichen. Danach sei das Transparent sofort entfernt worden. Trotzdem muss sich Delli Colli jetzt Fragen gefallen lassen. Stadtpräsident Martin Stöckling sagt dazu: «Delli Collis Version passt ins Bild, das die Demonstranten abgeben: Sie nehmen keine Rücksicht auf andere Personen. Es zählt nur die eigene Meinung.» (wyf)

Interview mit Polizeisprecher Hanspeter Krüsi
Interview mit Polizeisprecher Hanspeter Krüsi

"Für ein so hohes Aufkommen gibt es zu wenig Polizeipersonal"

Was zieht die St. Galler Kantonspolizei nach der illegalen Demonstration in Rapperswil-Jona für eine Bilanz? Der gesamte Polizeieinsatz verursachte Kosten von mehreren hunderttausend Franken. Wir dürfen aber sagen, dass wir mit dem Einsatz unsere Strategie erreicht haben. Die Sicherheit wurde gewährleistet, und es verletzten sich keine Personen: sowohl unter Demonstrierenden, Einsatzkräften oder der Bevölkerung. Ebenso hat die Kantonspolizei keine Kenntnis von Sachbeschädigungen.

Hat die Polizei erwartet, dass 4000 Leute aus der ganzen Schweiz kommen? Das hohe Aufkommen von rund 4000 Personen liegt im Bereich unserer Erwartungen. Von diesen mussten 45 Personen von Rapperswil-Jona weggewiesen werden, zudem wurden zwei Personen festgenommen.

Wieso hat die Polizei nicht schon früher Wegweisungen vorgenommen – Beamte waren ja schon vor Beginn der Kundgebung um 13 Uhr vor Ort? Es war schwierig, herauszufinden, wer an die Demonstration geht und wer nicht. Personen, welche eine Fahne sowie eine Glocke im Rucksack mitführten und dazu eine Sennenkutte trugen, konnten leicht als Demonstranten identifiziert werden. Einzelne davon wurden angesprochen und wenn sie nicht einsichtig waren, denn auch weggewiesen. Andere Personen haben uns schonungslos angelogen und zum Beispiel gesagt, dass sie später in den Kinderzoo gehen.

Die Polizei setzte Dutzende Dialogexperten ein – hat dieser Dialog gefruchtet? Das ist ganz schwierig zu beurteilen. Die Dialoge sind eine präventive Massnahme. Im Nachhinein ist es deshalb fast nicht nachvollziehbar, inwiefern die Prävention Schlimmeres verhindert hat. Wir sind aber überzeugt, dass unsere 3-D-Strategie (Dialog, Deeskalation und Durchsetzen, Anm. d. Red.) seit einem Jahr das richtige Mittel während der Pandemie ist. Die Kantonspolizei kann damit Schlimmeres verhindern, das war auch am Samstag in Rapperswil-Jona das Ziel der Polizeiführung.

Das heisst im Endeffekt: Wenn genügend Personen und ein paar Kinder vor Ort sind, hat die Polizei keinen Handlungsspielraum. Als Polizei gilt es, abzuwägen, was unsere Reaktion auslöst. Was ist das richtige Mittel, um kein weiteres Rechtsgut zu verletzen? Mit Tränengas und Gummischrot hätte das eine Panik auslösen können mit Verletzten. Das wollten wir nicht. Das wäre für uns schlimmer gewesen als eine Übertretung gegen das Covid-Gesetz. Sobald aber Gewalt angedroht worden wäre oder die Ruhe und Sicherheit nicht mehr gewährleistet gewesen wäre, hätte die Polizei einschreiten müssen – und können. Nichtsdestotrotz zeigte der Einsatz, dass es für ein so hohes Aufkommen zu wenig Polizeipersonal gibt. (wyf)

Die Freiheit der anderen

In der Schweiz fragt man sich immer, wie der Sturm aufs Capitol möglich war. Man ahnt jetzt die Antwort. Ein Kommentar von Nachrichtenchef Thomas Senn

Auch am Tag danach ringt man fassungslos um Worte für das schaurige Schauspiel auf dem Fischmarktplatz. War es ein farbiger Alpaufzug, für einmal einfach in der Stadt? Ist das von der Schweiz im zweitenCoronajahr übriggeblieben: eine farbige Wilhelm-Tell-Saga mit Treichlern und Fahnenschwingern? Ganz sicher aber war es eines nicht, und das steht heute schon fest: ein Ruhmesblatt für den Rechtsstaat.
Rund 4000 Menschen versammelten sich am Samstag auf dem Fischmarktplatz, obwohl die Stadt die Bewilligung dafür verweigert und die Polizei vor einem Kommen mehrfach gewarnt hatte. Die selbsternannten Freiheitsliebenden zogen ungehindert durch die Stadt und skandierten Parolen wie «Friede, Freiheit, keine Diktatur».
Es hatte alles nichts genützt. Nicht die starke Polizeipräsenz an den Einfallsachsen und auch nicht die Dialog-Teams auf dem Platz, die die Demo-Teilnehmer hätten ansprechen sollen. Vom 3-D-Konzept der Polizei «Dialog, Deeskalation, Durchsetzen», blieb am Schluss nur ein D übrig. Deeskalation – passiert ist zum Glück nichts. Dagegen konnten einem die Dialog-Polizisten in ihren grünen Gilets leidtun. Denn für einen Dialog braucht es immer zwei. Doch wie soll man Menschen ansprechen, die völlig verbohrt sind und denen es nur um eines geht – die Polizisten vor ihren Gesinnungsgenossen vorzuführen, wie das vor Ort zu beobachten war.    
 So blieb der Polizei auf dem Platz irgendwann nur noch die Zuschauerrolle. Um gegen 4000 Menschen anzukommen, braucht es ein paar Hundertschaften. Doch niemand will Bilder von prügelnden Polizisten, von weinenden Kindern – und das an einem wunderschönen Frühlingstag vor wunderschöner Altstadtkulisse.
Gegen diese Art der kollektiven Realitätsverweigerung hat bis jetzt noch keine Polizei in einem demokratischen Land ein Mittel gefunden.
Und darum heisst es jetzt nach Liestal, Schaffhausen und Altdorf auch von Rapperswil-Jona: Ein Durchgreifen wäre unverhältnismässig gewesen.  
Doch wann wird es verhältnismässig? Wie lange muss sich der Rechtsstaat noch vorführen lassen? Und all die Millionen, die am Samstag nicht in Rapperswil waren? Denen die Maskenpflicht auch nicht gefällt und die schon längst coronamüde sind? Die aber wissen, was Verantwortung heisst. Dass die eigene Freiheit immer dort aufhört, wo die Freiheit des anderen beginnt. Die Egoisten von Rapperswil wissen das nicht.
Irgendwann gemahnten einen die Bilder am Samstag an den Sturm aufs Capitol in Washington. Wehende Fahnen, Massen seltsam gekleideter Menschen, die sich eine Treppe hoch Richtung Eingang drängen. In der Schweiz hat man sich bisher immer gefragt, wie so etwas möglich ist. Man ahnt es jetzt.

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