×

Lichtblick

09.12.18 - 04:30 Uhr
PIXABAY

In dieser Kolumne von Pesche Lebrument gehts um nichts Besonderes. Einfach Leben.

In samtroten Sesseln sitzen wir versunken wie in Sänften. Ich und meine Freundin.  Staub flirrt im Projektorlicht.  Meine Freundin fragt, welchen Kinofilm ich zuletzt gesehen hätte. Ich kann mich nicht erinnern. Lange ist es her, seit der neuste Streifen Pflichtstoff auf dem Pausenplatz war.

Die Saalbeleuchtung erlischt, die Leinwand tritt hervor, die Sinne drängen ins Licht.

Vorschauen kommender Filme werben um künftiges Publikum: Spionagethriller, Fantasystreifen, Actionabenteuer. Unaufhörlich werden Geschichten produziert, seit klein auf lasse ich sie mir erzählen. Sie begegnen mir in Büchern, auf Bildschirmen aus Lautsprechern und auf Leinwänden: Gute-Nacht-Geschichten, Märchen, Romane, Krimis, Thriller. Ständig bin ich von Geschichten umgeben.

Leises Geplapper, nur wenige Menschen lassen sich heute Abend eine Geschichte erzählen. Gemeinsames Kinoerlebnis, alle sitzen möglichst weit auseinander.

Aus dem grossen Popkornkübel zwischen den Beinen meiner Freundin könnte ein Pferd fressen. Sie streckt ihn mir entgegen, ich mache abwehrende Gesten. Ihrer fettfreien Figur setzten diese leichtgewichtigen Dickmacher nicht zu. Weiter vorne kaut jemand hörbar Käse-Nachos. Kinos sind kulinarisch aus der Zeit gefallen. Schwere Kost im Kinosaal, warum gibt‘s nie etwas Leichtes zum Löffeln?

Die Leinwand erlischt, der Saal verstummt, mit einem Mal zieht wuchtige Musik von hinten direkt durchs Hörzentrum ins Hirn. Einzelbilder setzen sich in Bewegung und werfen mich vom Alltag direkt ins Abenteuer. Menschen in Übergrösse füllen die Projektionsfläche, Leinwandhelden in Kostümen und Kulissen werden Wirklichkeit. Nur der Popkorngeruch passt nicht zur perfekten Illusion.  

Verfolgungsjagd, Filmkuss, die Augen meiner Freundin weiten sich, immer langsamer gleitet Popkorn in ihren Mund. Ich baggere mit zu Schaufeln geformten Händen im Kübel. Während eines einzigen Filmes durchlebe ich Simulationen sämtlicher Gefühle: Angst, Wut, Glück, Trauer. Tränen, beinahe, nur nicht überwältigen lassen. Sitzend stehe ich das Abenteuer durch.

Am Ende erleidet der Bösewicht unvorstellbare Qualen. Je grausamer das Böse zugrunde geht, umso grösser ist meine Befriedigung. Das Gute hat gesiegt, der Held überlebt, wenigstens im Film kommt das Beste zum Schluss.

Die Saalbeleuchtung holt mich zurück, ich reib mir meine Augen, als wäre ich eben erwacht. Wir diskutieren flüsternd den fiktiven Film, perfekte Liebe, perfektes Leben, Bilder im Kopf.

Mit mir erhebt sich mein Schatten meterhoch auf der Leinwand. Als Kind hatte ich nach Filmbesuchen oft das Gefühl als besäße ich selbst die Kräfte des eben gesehenen Filmhelden. Jetzt drückt mich der Magen. Ich laufe über verstreutes Popkorn und verlasse zusammen mit der Geschichte den Saal. Ich trete hinaus, hinein in mein Leben ohne Drehbuch.

Kommentieren
Wir bitten um euer Verständnis, dass der Zugang zu den Kommentaren unseren Abonnenten vorbehalten ist. Registriere dich und erhalte Zugriff auf mehr Artikel oder erhalte unlimitierter Zugang zu allen Inhalten, indem du dich für eines unserer digitalen Abos entscheidest.