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Wohin führt dieser Krieg?

Der Vormarsch der russischen Armee verlangsamt sich seit zwei Monaten. Ein Beitrag von Viktor Schewtschuk.

Südostschweiz
08.02.25 - 04:30 Uhr
Bild Keystone

Unter dem Namen Viktor Schewtschuk schreibt an dieser Stelle ein ukrainischer Offizier, Militärexperte und Politikwissenschaftler über den Verteidigungskrieg gegen Russland. Er drückt dabei seine persönliche Meinung aus, basierend auf allgemein zugänglichen Informationen.

Die russische Armee eroberte im Dezember und Januar weniger Territorium als im November, als ihre Offensive ihren Höhepunkt erreichte.

Während die Invasionsarmee an Tempo verliert, erlitten die Russen in den letzten Monaten die höchsten Verluste pro gewonnenem Quadratkilometer seit Beginn dieses Krieges.

Nach Angaben des Generalstabs der ukrainischen Armee ist die Zahl der feindlichen Angriffe zurückgegangen. Dem Feind gelingt es nur in der Richtung Pokrowsk im Westen der Region Donezk, das Tempo beizubehalten. Auf diese Richtung entfällt die Hälfte der russischen Angriffe auf der gesamten Frontlinie. Die Russen verringern den Druck in den meisten anderen Teilen der Front.

Die russische Armee hält immer noch die strategische Initiative. Aber es gibt keine grösseren Frontdurchbrüche – der Putz des ukrainischen Verteidigungswalls bröckelt, aber der Wall steht.

Die Verlangsamung des Vormarsches spiegelt die Verlangsamung der Rekrutierung von bezahlten Soldaten für die russische Armee wider. Obwohl die Prämien für die Unterzeichnung von Verträgen in Russland im Jahr 2024 in die Höhe geschnellt sind, ist die Zahl der Vertragsrekruten im dritten und vierten Quartal des vergangenen Jahres zurückgegangen.

Moskau denkt darüber nach, dieses Jahr wieder Gefangene zu rekrutieren, obwohl man früher schon alle aus den Gefängnissen geholt zu haben schien. Aber auch den russischen Behörden fehlt es an Geld, weshalb sie wieder Gefangene anwerben wollen, um Soldaten billiger zu kaufen.

Das nordkoreanische Militär ist nach schweren Verlusten in der russischen Region Kursk seit drei Wochen nicht mehr an der Front aktiv.

Die Russen haben auch ihren absoluten Vorteil bei der Artillerie, den sie während des gesamten Krieges hatten, verloren. Um den Mangel an Artillerie zu kompensieren, werfen sie immer mehr gelenkte schwere Bomben aus der Luft ab. Die Zahl und die Reichweite der Einsätze von Kurzstrecken-FPV-Drohnen hat zugenommen – aber das gilt auch für das ukrainische Militär.

Die Russen steigern die Zahl der Einsätze von unbemannten Langstreckenflugzeugen iranischer Bauart weiter. Aber die Zahl und die Schlagkraft von Langstreckendrohnenangriffen der Ukraine auf Russland hat in -letzter Zeit wesentlich zugenommen. Dies bedeutet Schäden an Munitionslagern, Verteidigungsunternehmen, Treibstoffanlagen und militärischen Kommandopunkten bis zu 2000 km im russischen Hinterland.

Früher hatte Russland als Erbe der UdSSR enorme Panzer- und Artillerieressourcen. Doch diese sind seit 2022 um die Hälfte geschrumpft. Der verbliebene Bestand ist von schlechter Qualität und teilweise demontiert, so dass nicht alles davon aufgearbeitet werden kann. Der Bau neuer Panzer, gepanzerter Mannschaftstransporter und Artillerie ist viel zu langsam, um die Verluste an der Front auszugleichen.

Die Russen haben einen Mangel an gepanzerten Fahrzeugen an der Front. Die russische Infanterie greift immer häufiger mit 40 Jahre alten Schiguli-Zivilfahrzeugen an.

Die russische politische und militärische Führung hat die geplanten Gebietsgewinne nicht erreicht – weder bis zum Jahresende noch bis zu Donald Trumps Amtsantritt im Januar.

Die Agglomeration Pokrowsk-Myrnohrad ist bedroht, aber sie steht noch. Das ukrainische Kursk-Vorfeld ist zwar verkleinert worden, aber es besteht noch immer.

Für den Feind ist es nun problematisch, den Raum Slowiansk-Druschkiwka-Kramatorsk in der Region Donezk anzugreifen. Dabei handelt es sich um eine Reihe eng beieinander liegender Industriestädte. Die Aufgabe, diesen Ballungsraum jetzt zu besetzen, wäre für die russische Armee schwieriger als alles andere seit dem ersten russischen Einmarsch in die Ukraine im Jahr 2014. Doch unterdessen hat Moskau die Besetzung der gesamten Region Donezk zum wichtigsten politischen Ziel der russischen Invasion erklärt.

Die ukrainische Armee kämpft auch mit der Rekrutierung und mit der Bereitstellung ausreichender militärischer Ausrüstung und Munition. Aber die Dynamik an der Frontlinie ist für die Russen nicht mehr so günstig wie noch vor drei, vier Monaten. Es wird noch zwei, drei Monate dauern, bis sich zeigt, ob dieser Trend von Dauer ist.

Letztlich geht es in diesem Krieg nicht mehr um Gebietsgewinne. Es geht darum, die Kapazitäten des Gegners auf einer allgemeineren Ebene zu erschöpfen. Beide Kriegsparteien prüfen die Grenzen des politischen, wirtschaftlichen und militärischen Potenzials des jeweils anderen.

Das russische militärische Potenzial für einen konventionellen Krieg bleibt höher, während die Ukraine in hohem Masse von westlichen Lieferungen abhängig ist. Aber aus sozialen, politischen und wirtschaftlichen Gründen kann jedes System jederzeit destabilisiert werden, was sich auf die Situation an der Front auswirkt.

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