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Als die «Glarner Nachrichten» in die Zukunft stolperten

1991 katapultierten sich die «Glarner Nachrichten» quasi über Nacht von einer gewöhnlichen Lokalzeitung zu einem europäischen Technologie-Trendsetter. Auslöser war eine spontane Rettungsaktion.

Südostschweiz
26.05.21 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Frühe Kunden von Apple: Ab 1991 produzierten die Glarner Nachrichten als eine der ersten Zeitungen in Europa ihr Blatt im Desktop-Publishing-Verfahren – das heisst, man konnte schon am Computerbildschirm sehen, wie die Seite gedruckt aussieht.
Frühe Kunden von Apple: Ab 1991 produzierten die Glarner Nachrichten als eine der ersten Zeitungen in Europa ihr Blatt im Desktop-Publishing-Verfahren – das heisst, man konnte schon am Computerbildschirm sehen, wie die Seite gedruckt aussieht.
Archivbild

von André Maerz*

Rund 100 Jahre wurden die «Glarner Nachrichten» im Bleisatz hergestellt. Danach wechselte man in den 1980ern auf den Filmsatz: Einzelne Zeitungselemente wurden am Computer gesetzt und auf spezielles Fotopapier ausbelichtet. Diese Papierschnitzel («Fahnen») wurden dann von Metteuren mit Massstab und Skalpell auf die richtige Grösse geschnitten und in die Zeitungsseiten eingeklebt. Die fertigen Seiten wurden dann lithografiert und daraus Druckplatten erstellt.

«Noch nicht ausgereift»

1989 hatte die bestehende Filmsatzmaschine das Ende ihres Lebens­zyklus erreicht und musste ersetzt werden. Offerten für die damals mehrere 100 000 Franken teure Maschine wurden eingeholt. Auf Drängen einiger junger Mitarbeiter sollte auch eine moderne Alternative geprüft werden. Damals liessen die ersten Personal Computer aus dem Hause Apple aufhorchen. Mit diesen kleinen revolutionären Geräten wurden im Desktop-Publishing-Verfahren (Ganzseitenumbruch) bereits erste Monatszeitungen, zum Beispiel das «Cash», mit dem Programm Page-Maker produziert.

Obwohl die Technik als «für eine Tageszeitung noch nicht ausgereift» eingestuft wurde, fuhr das gesamte Technik-Personal am Donnerstag, 29. November 1990, nach Bern, um sich die neue Technologie vorführen zu lassen. Auf der Rückfahrt nach Glarus wurde in Näfels ein Restaurant-Stopp eingelegt, um beim Feierabend-Bier das Erlebte gemeinsam zu verdauen. Gegen 20 Uhr rief die Wirtin den Chef ans Telefon (Handy und Internet gab es damals noch nicht). Totalausfall des Produktionssystems in Glarus! – Im Eiltempo nach Glarus. Dort die Erkenntnis, dass es keine Chance mehr gab, das Filmsatz­system kurzfristig wieder zum Laufen zu bringen. Da meldete sich der damalige Produktionsleiter zu Wort und schlug vor, aus dem vorhandenen, bereits ausbelichteten Material ein paar Zeitungsseiten zusammenzu­kleben, während er zu Hause auf seinem privaten Atari-Computer einen Artikel zur Erklärung produzieren würde, den man auf der Front dann einkleben könne. Gesagt – getan.

«Wenn die EDV es will, stehen alle Räder still»

Der Leitartikel vom Freitag, 30. November 1990, titelte «Computer­system stürzte ab». Die Schrift und die Abstände stimmten nicht ganz genau, aber das merkten nur Kenner. Was dem Leser eher auffiel, waren das etwas dünne Blatt mit nur 20 Seiten, die etwas wirre Themenzusammenstellung (etwa «Personelles aus der Primarschule» auf der Frontseite) und der Wetterspruch von Chefredaktor Ruedi Hertach, den er auf seiner Schreibmaschine geschrieben hatte: «Wenn die EDV es will, stehen alle Räder still. Doch wir machen gute Miene, höckeln an die Schreibmaschine, denken nicht an Seelenschmetter, sondern pflichtgemäss ans Wetter, hören, dass es schneien müsste, spüren folglich Schneegelüste: Pulver fahrbar, Himmel blau, notfalls ohne Ee Dee Vau.» Weil die Zeitung damals noch in Glarus gedruckt wurde, konnte die Zeitung trotz des Vorfalls pünktlich ausgeliefert werden.

Der damalige Besitzer der «Glarner Nachrichten», Ruedi Tschudi, entschied wenige Tage später zusammen mit seinem damaligen Berater, Thomas Held, sein Unternehmen auf die neue Technologie umzurüsten. Der Produktionsleiter wurde zum Projektleiter ernannt und mit der schnellstmöglichen Umsetzung betraut.

Das Modell für den Umbau baute der Projektleiter mit Lego

Danach ging es sehr schnell. Mit dem damaligen Start-up-Unternehmen A&F wurde ein Konzept mit 30 vernetzten Mac-Arbeitsplätzen, Druckern sowie einem Belichter entworfen. Obwohl die Hardware damals astronomische Preise hatte (der erste Laserdrucker von Apple kostete gepflegte 18'000 Franken), blieb die geplante Installation weit unter den ersten Kostenkalkulationen.

Der Projektleiter nutzte dies und schlug vor, mit dem verfügbaren Budget auch gleich noch ein paar Umbauten an der Zwinglistrasse vorzunehmen, um die Arbeitsprozesse zu vereinfachen. Dazu baute er mit den Legosteinen seines Sohnes ein Modell, das er Tschudi und Held präsentierte. Schien alles gut und recht zu sein, aber Kunstliebhaber Tschudi hatte kein Verständnis für das Farbkonzept des Modells. Als ihm gesagt wurde, dass für das Modell nicht genügend weisse Lego-Steine vorhanden gewesen seien und deshalb auch rote und blaue verwendet wurden, war die Sache gegessen beziehungsweise bei einem Calvados besiegelt.

Die Ausbildung lief drei Tage, dann brach ein Brand aus

Der Technologie-Lieferant A&F leistete ganze Arbeit. Er wusste, dass der Erfolg dieses Projektes über die Zukunft des Unternehmens entscheiden würde. Binnen weniger Wochen waren die Detailplanungen sowie die Bauplanung abgeschlossen. Bereits Ende April, also fünf Monate nach dem Start, wurde installiert. Die Ausbildung der Mitarbeiter begann. Geplant war ein schrittweiser Roll-out über ein halbes Jahr; immer mehr Zeitungsseiten sollten mit dem neuen System erstellt werden, bis das alte abgestellt werden konnte.

Die Ausbildung der Mitarbeiter lief gerade mal drei Tage, als ein Brand im alten Serverraum, das alte System erneut ausser Gefecht setzte. Und wieder musste improvisiert werden. Zusammen mit einem damals 20 Jahre alten Spezialisten des Lieferanten produzierten der Produktionsleiter sowie die beiden halbwegs ausgebildeten Layouter quasi im Alleingang die Zeitung. Am anderen Tag erschien die Zeitung wie immer. Niemand merkte, was sich da für ein Drama abgespielt hatte. Allerdings knurrte Zeitungsbesitzer Tschudi: «Weshalb brauchen wir eigentlich 30 Leute, wenn das auch eine Handvoll machen kann?»

Der Vorfall beschleunigte die Umstellung. Innert kürzester Zeit wurde die gesamte Zeitung im neuen Verfahren produziert. Damit waren die «Glarner Nachrichten» europaweit die erste Tageszeitung, welche bis zur Druckplatte komplett digital produziert wurde. Damit war sie mehrere Jahre in diesem Bereich technologisch führend. Ende 1995 begann allerdings ein neues Zeitalter: Das Internet begann, die ganze Welt zu umspannen und die Zeitungsbranche strukturell und technisch vor ganz neue Herausforderungen zu stellen.

*André Maerz (61-jährig) arbeitete als Fotograf, Journalist, Produktions- und Projektleiter von 1986 bis 2019 in diversen Führungspositionen bei den «Glarner Nachrichten», beim «Blick» und bei der NZZ. Seit 2020 arbeitet er in der Staatskanzlei des Kantons Glarus.

Auch heute haben wir ein neues System
Die aktuelle Ausgabe der «Glarner Nachrichten» ist erstmals mit einem aktualisierten Produktionssystem hergestellt. Wir hoffen, liebe Leserinnen und Leser, dass Sie von einem Drama hinter den Kulissen nichts merken, sollte es sich denn abgespielt haben, und dass Sie wie gewohnt Ihre Tageszeitung lesen können. (red)

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