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Karin Hartmann, die Egoistin

Die Organisation Ärzte ohne Grenzen leistet in Krisengebieten medizinische Hilfe. Karin Hartmann, die am Kantonsspital in Chur arbeitet, stand schon mehrmals für die Organisation im Einsatz.

26.10.20 - 03:30 Uhr
Leben & Freizeit
Für andere da: Ärztin Karin Hartmann war schon drei Mal für Ärzte ohne Grenzen im Ausland unterwegs.
Für andere da: Ärztin Karin Hartmann war schon drei Mal für Ärzte ohne Grenzen im Ausland unterwegs.
OLIVIA AEBLI-ITEM

Karin Hartmann ist 49 Jahre alt und arbeitet als Kinderärztin am Kantonsspital in Chur. Sie hat sich zur Kinderhämatologin und -onkologin weitergebildet. Und sie ist eine Egoistin. Manchmal lässt sie ihre Familie, ihren Job, ihr Leben in der Schweiz zurück und reist in ein weit entferntes, unsicheres Land. Um mit den Ärzten ohne Grenzen (MSF) Menschen, vornehmlich Kinder, zu behandeln, die keinen Zugang zu guter medizinischer Versorgung haben. Nicht, weil ihr das besonders Spass macht, sondern weil sie weiss, dass es das Richtige ist. Weil sie es tun muss. Weil diesen Kindern sonst niemand hilft und sie einfach sterben. Sie sagt: «Ich bin in der Schweiz auf die Welt gekommen. Das ist eine riesige Chance. Ich durfte ein Medizinstudium machen. Ich zähle zu den privilegierten Menschen auf dieser Welt. Es war mir relativ rasch klar, dass ich etwas zurückgeben will.» Doch aktuell möchte Hartmann keine Egoistin sein.

Die aus der Region Basel stammende Ärztin lebt mit ihrem Partner in Sargans und verbringt ihre Freizeit mit Reisen, Wandern und Lesen. Zudem ist sie Tante von drei Jungen. Hartmanns Stimme wechselt in eine höhere Tonlage, wenn sie von ihren Neffen spricht. Sie sind einer der Gründe, weshalb es ihr zurzeit schwer fällt, eine Egoistin zu sein.

Schon drei Einsätze absolviert

Hartmann war schon drei Mal für Ärzte ohne Grenzen unterwegs. Wenn ihr Berufs- und Privatleben es zulassen, meldet sie sich bei MSF und gibt an, wann sie verfügbar ist. Das letzte Mal war das 2017. Sie reiste in den Südsudan. Ihren ersten Einsatz hatte Hartmann in der Demokratischen Republik Kongo, 2006. Drei Jahre später reiste sie nach Guinea /Westafrika.

Auch wenn die Einsätze für MSF nicht komplett auf Freiwilligenarbeit beruhen – einen finanziellen Anreiz gebe es nicht, sagt Hartmann. «Man erhält eine Vergütung und Kost und Logis sowie die Krankenversicherung bezahlt.» Nicht vergleichbar mit dem Lohn, den sie hier in der Schweiz in dieser Zeit erhalten würde.

Um mit MSF in einen Einsatz zu gehen, müsse man eine stabile Lebenssituation haben. Und Menschen und andere Kulturen mögen: «Man wird mit den verschiedensten fremden Menschen in ein fremdes Land mit noch mehr fremden Menschen gebracht», erzählt die Ärztin. Der erste Einsatz dauere immer mindestens sechs Monate. Danach mindestens drei Monate. «Verlängern ist grundsätzlich immer möglich», sagt Hartmann. Frühzeitig abzubrechen gelte es allerdings zu verhindern. «Aber lieber einen Einsatz frühzeitig abbrechen, als dass es der Ärztin oder dem Arzt nicht gut geht und die Behandlung darunter leidet.»

Die andere Welt

Vor ihrem ersten Einsatz habe Hartmann keine Vorstellung gehabt, was sie am Ziel erwartet. «Wenn man hier in einem Spital gearbeitet hat und die Umstände in den Spitälern hier gewohnt ist, kann man sich nur schwer vorstellen, wie die Arbeit in einem Spital in Afrika aussieht.» Nicht nur, weil es sich in Afrika oft einfach nur um ein Spital in einem Zelt handelt, auch die Abklärungsmöglichkeiten seien sehr beschränkt. «Die technischen Möglichkeiten, die es in der Schweiz gibt, gibt es in Afrika schlicht nicht.» Sie habe aber auch gemerkt, dass man mit relativ wenigen Ressourcen sehr viel bewirken könne.

In ihrer Anfangszeit als Mitglied von MSF habe sie oft gehadert, die Umstände in den Schwellenländern mit jenen in der Schweiz verglichen. Das habe sie beelendet. «Es ist bei der Anreise schwierig, es ist bei der Abreise schwierig», sagt sie. Es habe sogar einen Bruch in ihrer Ausbildung verursacht. Sie brach die Spezialisierung zur Kinderhämatologin und -onkologin zwischenzeitlich ab. Geholfen habe das Älterwerden. «Die Akzeptanz, dass ich als Einzelperson die Welt nicht komplett ändern kann, ist mittlerweile gewachsen.» Heute vergleiche sie weniger, sondern versuche einfach, an jedem Einsatzort ihr Bestes zu geben.

Hohe Hochs, tiefe Tiefs

Angesprochen darauf, ob es auch so etwas wie Highlights bei solchen Einsätzen gebe, antwortet Hartmann: «Klar!» Ein Erlebnis sei ihr dabei besonders in Erinnerung geblieben: «Als ich 2006 im Kongo war, bin ich jeweils spät abends nochmals ins Spital gefahren, um nach den Patienten zu sehen. Als ich das Spital wieder verlassen habe, war es draussen stockdunkel. Und plötzlich hat jemand von den Angehörigen der Patienten begonnen zu singen. Schliesslich haben immer mehr Menschen angefangen zu singen. Das habe ich als ein Dankeschön wahrgenommen, und fand es schlicht wunderschön.»

Solchen Erlebnissen steht der happige Einsatz-Alltag von Hartmann gegenüber. «Jedes Mal, wenn ein Kind stirbt, nimmt mich das sehr mit», erzählt sie. Es gibt Fälle, in denen das Kind überlebt hätte, wenn es eine Bluttransfusion erhalten hätte. In der Schweiz ist so etwas kein Problem. «Wenn ich hier eine Blutkonserve bestelle, habe ich diese in drei bis fünf Minuten bei mir», sagt Hartmann. Nicht aber in den Schwellenländern. Dort brauche es viel Glück und gutes Timing. «Wenn wir überhaupt jemanden haben, der dieses Blut spenden kann, dann dauert das Blutnehmen allein schon eine Weile. Anschliessend muss dieses Blut getestet werden. Diese wertvolle Zeit haben wir bei der Behandlung in Schwellenländern oftmals nicht. Das tut mir sehr weh.» Bei jedem Einsatz gebe es Momente, in denen sie sich frage, warum sie sich das überhaupt antue.

Jetzt nicht, vielleicht später

Aktuell möchte Hartmann nicht für MSF wegfliegen: «Ich habe hier meinen Partner, meine Neffen. Wie sehr kann ich ein Egoist sein und einfach gehen?» Kurz vor ihrem letzten Einsatz kam ihr jüngster Neffe zur Welt. «Das war schwierig. Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, ich verpasse etwas.» Der Drang zu helfen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, stehe dem Familien-Verantwortungsgefühl gegenüber. «Was ist, wenn jemandem aus meiner Familie etwas passiert, während ich an einem Einsatz in Afrika bin?» Trotzdem, das Thema MSF-Einsatz sei für sie noch nicht endgültig abgeschlossen. Wenn ihre Neffen grösser sind, könne sie es sich sehr gut vorstellen, wieder wegzufliegen, um im Ausland zu helfen. Um wieder Kinder in Schwellenländern zu behandeln. Um wieder Egoistin zu sein.

Ärzte ohne Grenzen

Am 21. Dezember 1971 wurde die private Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen gegründet. Die unabhängige Organisation leistet medizinische Nothilfe in Krisen- und Kriegsgebieten. Hierfür wurde ihr 1999 der Friedensnobelpreis verliehen. Alle Sektionen auf internationaler Ebene, so auch die Schweizer Sektion, nutzen die französische Bezeichnung Médecins Sans Frontières, deren Abkürzung MSF und die Übersetzung in ihrer jeweilige Sprache.

 

Mara Schlumpf ist Redaktorin und Chefin vom Dienst bei «suedostschweiz.ch». Ursprünglich kommt sie aus dem Aargau, hat ihr Herz aber vor einigen Jahren an Chur verschenkt. Mehr Infos

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