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Aufnahmeprüfung wird kritisch hinterfragt

Ein Auftrag fordert die Abschaffung der Aufnahmeprüfungen an Mittelschulen. Nun soll ein Gutachten die Vor- und Nachteile aufzeigen. Die Idee stösst in Fachkreisen auf Neugier und Skepsis.

Patrick
Kuoni
08.09.20 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Diskussionen über Abschaffung: Aufnahmeprüfungen an Bündner Mittelschulen könnten bald der Vergangenheit angehören.
Diskussionen über Abschaffung: Aufnahmeprüfungen an Bündner Mittelschulen könnten bald der Vergangenheit angehören.
KEYSTONE

Sollen die Prüfungen in die Bündner Mittelschulen abgeschafft werden? Mit dieser Frage beschäftigte sich kürzlich das Bündner Parlament. Es behandelte einen Auftrag von CVP-Fraktionschef Remo Cavegn, der dies forderte. Er begründete diese Forderung unter anderem damit, dass es immer mehr Vorbereitungskurse auf die Prüfungen gibt. «Diese haben ein Ausmass angenommen, dass deren Besuch für einen Prüfungserfolg unumgänglich scheint.»

Ärmere benachteiligt

Eigentlich sei es Aufgabe der Volksschule, die Schülerinnen und Schüler auf den Besuch einer Mittelschule vorzubereiten. Zudem würden Kinder mit einkommensstärkeren Eltern durch diese Kurse klar bevorteilt. In anderen Kantonen wird das Übertrittsverfahren bereits ohne Aufnahmeprüfungen oder in einem Empfehlungsverfahren mit Prüfung nur bei Uneinigkeit vorgenommen. So etwa in Luzern, Zug, Uri, Bern und Basel-Land.

In der Bündner Politik geniesst der Auftrag viel Sympathie, wie die Debatte zeigte. Abgeschafft ist die Prüfung aber noch nicht. Das Parlament sprach sich schliesslich mit 83:15 Stimmen für den abgeänderten Auftrag der Bündner Regierung aus. Diese wird nun einen externen Gutachter damit beauftragen, die Vor- und Nachteile von Aufnahmeverfahren mit und ohne Prüfung zu skizzieren.

Lehrpersonen unterstützen Regierung

Doch wie stehen eigentlich die betroffenen Akteure zu einer möglichen Abschaffung? Sandra Locher Benguerel, Präsidentin des Vereins Lehrpersonen Graubünden (Legr), hält fest, dass die Geschäftsleitung des Legr die Haltung der Regierung unterstützt. «Wir sehen keinen dringenden Handlungsbedarf.» Der Verein würde jedoch gespannt auf die Ergebnisse des externen Gutachtens warten. «Neue Gedanken bringen neue kreative Ideen und damit möglicherweise bessere, gerechtere Ansätze», meint Locher Benguerel.

Aus der Sicht von Locher Benguerel für eine Abschaffung der Prüfungen spricht, dass «die Mehrheit der Lehrpersonen aufgrund einer ganzheitlichen Beurteilung objektiv entscheiden kann, ob ein Kind ans Gymnasium gehört oder nicht.» Ausserdem löse eine Prüfung bei manchen auch Prüfungsängste und Druck aus. Und wie gut man bei einer Prüfung abschneide, hänge stark von der Tagesform ab.

Ein einheitliches Verfahren

Die Legr-Präsidentin findet aber auch verschiedene Argumente für das Beibehalten des Status quo. So sei die Prüfung ein «verhältnismässig einheitliches, objektives Zulassungsverfahren». Und sie hält weiter fest: «Trägt die Lehrperson alleine die Verantwortung für den Übertrittsentscheid ins Gymnasium, so steht diese stark unter Druck.» Bereits aktuell würden die 5. und 6. Primarklasse als belastende Stufen wahrgenommen. «Mit dieser zusätzlichen Aufgabe würde die Stufe weiter an Attraktivität verlieren.»

Locher Benguerel versteht das Argument von Cavegn, dass mit einem prüfungsfreien Übertritt der Wildwuchs an zusätzlichen privaten Angeboten im Vorfeld der Aufnahmeprüfung wegfallen würde. «Wir müssen aber damit rechnen, dass sich dann die privaten Anbieter in ihrem Angebot anpassen und sich private Dienstleistungen verlagern können.» Damit entstehe keine Verbesserung der aktuellen Situation, sondern es fände eine Verlagerung des Lerndrucks statt.

Etabliertes System

Hans-Andrea Tarnutzer, Rektor der Evangelischen Mittelschule Schiers, ist der Meinung, dass sich «das Aufnahmeverfahren an die Bündner Mittelschulen über die letzten 20 Jahre gut entwickelt hat und auch gut etabliert ist». Welches System die «richtigen» Schülerinnen und Schüler an die Mittelschule bringe, könne er aber nicht abschliessend beantworten. Er sieht wie Locher Benguerel sowohl Vor- als auch Nachteile bei einer Prüfungsabschaffung. Als negative Begleiterscheinungen sieht Tarnutzer ebenfalls die Verlagerung auf andere Angebote – wie etwa Nachhilfe – anstelle der Prüfungsvorbereitungen.

Und er erklärt weiter: «Der Kanton gibt ein Steuermechanismus aus der Hand, der tendenziell zuungunsten der Berufsbildung ausfallen würde.» Heisst: Die Maturitätsquote würde eher steigen. Dies könnte laut Tarnutzer je nach Hintergrund aber auch als Vorteil ausgelegt werden. Er sieht ausserdem die Gefahr, dass ein objektives Instrument, welches weder von den privaten Mittelschulen noch von der Berufsbildung wesentlich beeinflusst werden kann, verschwinden würde.

Als positiven Punkt sieht Tar- nutzer, dass die Kinder nicht mehr die Hälfte der 6. Klasse mit Prüfungsvorbereitungen verbringen würden und somit mehr Freizeit hätten. Und er hält fest: «Die Lehrpersonen, welche die Schülerinnen und Schüler gut kennen, hätten einen grösseren Einfluss auf das Übertrittsverfahren.» Weiter würde ein grosser Aufwand für die Prüfungsvorbereitung und Durchführung entfallen.

Michel sieht Widerspruch

Jürg Michel, Präsident des Bündner Gewerbeverbands (BGV), betont, dass es aus Sicht des BGV wichtig sei, «dass es beim Übertritt weder eine Senkung der Leistungsanforderungen noch eine Erhöhung der Quote gibt.»

Wie der Übertritt erfolge, sei für den BGV sekundär. «Allerdings mutet es etwas sonderbar an, wenn die sogenannte intellektuelle Elite von Prüfungen und dem damit verbundenen Stress befreit werden soll», so Michel. Aber der Bündner Gewerbeverband gehe davon aus, dass die Abklärungen auf diesen offensichtlichen Widerspruch eingehen würden.

Patrick Kuoni ist Redaktor und Produzent bei Südostschweiz Print/Online. Er berichtet über Geschehnisse aus dem Kanton Graubünden. Der Schwerpunkt seiner Berichterstattung liegt auf den Themenbereichen Politik, Wirtschaft und Tourismus. Wenn er nicht an einer Geschichte schreibt, ist er als einer der Tagesverantwortlichen für die Zeitung «Südostschweiz» tätig. Patrick Kuoni ist in Igis (heutige Gemeinde Landquart) aufgewachsen und seit April 2018 fester Teil der Medienfamilie Südostschweiz. Mehr Infos

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